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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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üblichen OP-Geplänkel. In dem Moment dachte er sich nichts dabei. Er war müde, erleichtert, nicht zu einer Heiterkeit genötigt zu werden, nach der ihm gar nicht war. Ein Erinnerungsbild: Mrs Mara, die, als er vorüberging, die Hand nach ihm ausstreckte, als wollte sie seine Schulter berühren. Er ging rasch an ihnen allen vorbei. Allen außer Seligmann, dem er assistieren würde.
    Im ersten Moment erkennt er sie nicht wieder. Seligmann redet mit ihm. Kai hört dem älteren Mann zu. Doch Kai ist die Sorte Arzt, die den Patienten ins Gesicht schaut. So auch jetzt.
    Sie ist noch bei Bewusstsein. Sie lächelt, als sie ihn sieht. In ihren Augen ist keine Spur von Angst zu erkennen. Sie ist froh, dass er da ist, sagt sie, denn sie hat ausdrücklich nach ihm verlangt. Bevor sie ein weiteres Wort sagen kann, setzt der Schmerz ein. Er sieht ihr an, mit welcher Wucht er sich aufbaut, ein gewaltiges Aufwallen. Es ist furchterregend. Ihre Fingernägel bohren sich in seinen Unterarm. Er spürt, wie der Druck in seinem Arm zu Schmerz wird, wünscht, er könnte all das, was sie empfindet, von ihrem in seinen Körper übertragen. Er sieht, wie der Schmerz sie überrollt, wie ein berstender Damm.
    »Na los«, sagt er zu ihr. Um Gottes willen, los! Schrei! Kreisch! Es macht mir nichts aus. Aber sie hört ihn nicht, und sie sieht ihn nicht mehr. Der Atem entfährt ihr als ein langes bebendes Stöhnen.
    »Jemand, den Sie kennen?«, fragt Seligmann.
    Kai nickt.
    Seligmanns Augen ruhen auf Kais Gesicht. Ausnahmsweise einmal stößt der alte Mann keinen Pfiff aus. »Wir müssen das Kind da rausholen. Es könnte eine Ruptur vorliegen. Kriegen Sie’s hin? Ich kann auch jemand anders rufen.«
    »Ich komm klar.«
    »Dann an die Arbeit.«
    Kai will nicht, dass sie dabei wach ist. Er will auch nicht, dass sie schläft. Er will sie bei Bewusstsein haben, sodass er mit ihr reden kann, sie trösten kann. Jetzt, wo er sie wiederhat, will er sie nicht mehr loslassen. Er geht zu ihr und nimmt ihre Hand.
    »Ich bin da. Ich liebe dich«, flüstert er. Er möchte sie erreichen.
    Sie lächelt. »Ich weiß. Hast du nicht mal gesagt, du würdest alle meine Babys auf die Welt bringen? Oder hast du dich geweigert? Ich weiß es nicht mehr.« Sie öffnet den Mund: »Alpha …«
    Dann übermannt der Schmerz sie wieder.
    Kai nickt der Anästhesistin zu, die auf den Kolben drückt, wodurch die Flüssigkeit in die Plastikkanüle strömt. Er hält Nenebahs Hand und beobachtet ihr Gesicht. Spürt, wie sich ihre Finger in seinen verkrampfen und dann entspannen. Sieht sein Spiegelbild in ihren Augen, die OP-Leuchten über sich, schaut zu, wie das Licht flimmert und zur Ruhe kommt, die Lider sich schließen.
    Auf dem Hang eines Hügels. Wann? Vor fünf-, sechstausend Jahren, bevor ein Krieg ausbrach und sie alle auseinanderfegte. Sie waren Studenten und saßen an ihrer Lieblingsstelle in den Hügeln über der Universität. Er machte ihr einen Heiratsantrag, den sie für das Pfand eines Rings aus geflochtenen Grashalmen annahm. Schau! Sie hält Tejani stolz ihren Finger hin. Kai macht sich daran, ihr noch eine Halskette und eine Krone aus Gras zu flechten, mit Blüten umrankt. Ameisen krabbeln, trunken von Nektar, aus den Blüten heraus. Eine von ihnen krabbelt ihr über den nackten Bauch, verschmilzt vorübergehend mit den zwei Muttermalen unter ihrem Nabel. Kai pustet die Ameise fort. Hey! Sie gibt ihm einen leichten Klaps. Das war unser Erstgeborener. Du hast unseren Sohn weggepustet. Er vergräbt das Gesicht in ihren Bauch, beißt ins Fleisch. Es werden mehr kommen. Millionen mehr, du wirst schon sehen. Sie schlägt ihn mit ihrer Blumenkrone, ein Gestöber von Ameisen und Blütenblättern.
    Einen Monat lang dachten sie sich Namen für die Ameisenbabys aus, bis sie eine Liste von zwanzig Namen auswendig wussten. Dann beschlossen sie, da es alles in allem praktischer war, diese zwanzig Namen für die Millionen zu erwartender Ameisenbabys in alphabetischer Reihenfolge zu benutzen. Alpha, Brima, Chernor …
    Aus irgendwelchen Gründen waren es alles Jungen.
    Kai schaut zu, wie die Klinge von Seligmanns Skalpell zwischen den zwei Muttermalen schneidet.
    Hinter ihm fliegt die Schwingtür auf, eine Schwester hat eine Nachricht. Adrian ist draußen auf dem Korridor und möchte ihn sprechen. Kai kann jetzt aber nicht mit Adrian sprechen.
    »Was soll ich ihm sagen?«, fragt die junge Schwester.
    »Sagen Sie ihm, er soll sich für eine Blutspende bereithalten.« Er wirft

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