Lied aus der Vergangenheit
führt ihn in ein kleines Zimmer, gibt ihm eine Tasse Kaffee. Er hat im Krankenhaus nur wenige Freundschaften geschlossen, nahm nicht an, dass viele von seiner Beziehung zu Mamakay wussten. Er ist erheblich älter als die meisten von ihnen. Und trotzdem sind sie jetzt alle da, zeigen ihm Mitgefühl. Irgendwann im Laufe dieser Stunden erscheint Mrs Mara und versucht, ihn dazu zu bewegen, in ihrem Büro zu warten. Adrian schüttelt den Kopf. Er kann sich nur mit Mühe auf ihre Worte konzentrieren. Sein Körper ist taub, sein Gehirn ein Strudel halb garer Gedanken. In dem einen Moment geht er rastlos im Zimmer auf und ab, unfähig, sitzen zu bleiben, in dem anderen sackt er, plötzlich kraftlos, in sich zusammen, als seien ihm sämtliche Knochen aus dem Leib gesogen worden. Jeder um ihn herum scheint rasch und effizient irgendwohin unterwegs zu sein. Es ist niemand da, mit dem er reden, niemand, den er fragen könnte, was los ist. Er würde am liebsten jemanden am Arm packen und festhalten, aber er hat Angst, zu einem Störfaktor zu werden, spürt eindringlich, wie überflüssig er hier ist, wie zwecklos seine Anwesenheit.
Es ist vollkommen still. Nichts von dem Wispern und Murmeln anderer Krankenhäuser, in denen er gewesen ist, den federnden Fußböden und schweren Vorhängen, dem Atmen der Klimaanlage und dem elektronischen Herzschlag der Monitore. Nur das Klatschen von Gummischuhen auf Zement, das Knallen von Türen. Harte, trostlose Geräusche. Selbst das Licht ist hart, leuchtet so grell, dass es in den Augen wehtut, und vermag doch kaum Helligkeit zu spenden.
Irgendwann tritt er aus dem Wartezimmer. Ihm geht auf, dass er keine Ahnung hat, wie viel Zeit vergangen ist. Eine Stunde? Eine Minute? Es muss nach Mitternacht sein. Er sieht die Schwester, die ihm Blut vom Finger gewischt hat. »Was ist mit dem Blut?«, fragt er. »Müsste ich nicht irgendwohin, um Blut zu spenden?« Aber sie schüttelt den Kopf und erklärt ihm, dass er nicht infrage kommt, falsche Blutgruppe. Sie lächelt ihn an, und er versucht, irgendetwas aus ihrem Lächeln herauszulesen. Er geht zurück ins Zimmer und setzt sich auf die Bank, auf die jemand eine dünne Matratze gelegt hat, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand, spürt das Hämmern seines Herzens.
Geräusche auf dem Gang. Unruhe. Adrian steht auf und setzt sich wieder hin, steht wieder auf und öffnet die Tür. Der Korridor ist menschenleer, das harte Licht prallt vom lackierten Fußboden ab. Plötzlich brechen Lärm und Bewegung in die Leere ein. Eine Rollbahre erscheint, von zwei Krankenwärtern geschoben. Darauf liegt ein Mann, wach und vor Schmerzen stöhnend. Ein Bein ist entblößt, die Hose ist weggeschnitten worden. Ein blutiger Verband. Schwestern tauchen auf. Die Tür des OP-Saals öffnet sich, des Raums, in dem Mamakay liegt. Ein Chirurg kommt heraus – wie heißt er noch mal, Seligmann? Ja, Seligmann. Jetzt schaut er sich den Mann auf der Rollbahre an, erteilt einer Schwester eine rasche Folge von Anweisungen, während er die Verletzungen des Mannes untersucht. Die Schwester legt dem Mann eine Armbinde an. Adrian spürt, wie die Anspannung in seiner Brust steigt. Er hat aufgehört zu atmen. Wer ist der Mann auf der Bahre? Er soll verschwinden, sich in Luft auflösen oder sterben, egal, Hauptsache, Seligmann geht zurück in den OP . Dieser Mann, dieser neue Patient, ist eine unerwünschte Ablenkung.
Es war ein Fehler, hierzubleiben, ihr zu gestatten, hierzubleiben. Jetzt ist ihm das klar. Zu blind vor Liebe, von der Schönheit dieses kaputten Landes verführt – er hatte versagt. Das ist kein Ort, an dem man sein Leben verbringen sollte. Es ist seine, nicht Mamakays Schuld, denn sie kennt ja kein anderes Leben. Er hätte es besser wissen sollen, er hat zugelassen, dass ihm die Dinge zu Kopf stiegen, dass dieses Land ihm in die Knochen und die Seele gekrochen ist. Wenn das alles vorbei ist, wird er sie von hier wegbringen. Sie werden zusammen nach England gehen. Er wird sich um sie kümmern. Sie wird keine Einwände haben, weil es das Beste ist. Dort wird es nichts von alldem geben. Dort herrscht Ruhe. Dort herrscht Ordnung. Dort gibt es Menschen, mit denen man vernünftig reden kann. Die einen verstehen. Alles wird klar sein. Sie hat bisher jeden Vorschlag, das Land zu verlassen, von sich gewiesen, aber jetzt wird sie es einsehen. Hier gibt es nichts, hier sind sie beide diesem Ort hilflos ausgeliefert, wie alle anderen auch. Zu Hause, in seiner Heimat, wird es
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