Lied aus der Vergangenheit
anders sein. Dort wird sie glücklich sein, denn wie könnte man nicht darüber glücklich sein, außerhalb des Schattens der Katastrophe zu leben? Ihr Zorn wird versiegen, ihre Ruhelosigkeit enden, wenn sie erst einmal die Ereignisse ihrer Vergangenheit hinter sich gelassen hat.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es noch nicht zu spät ist.
Es könnte so einfach sein. Es ist so einfach.
Es ist niemals so einfach.
Er weiß, was er da tut. Er ist schon dabei, mit Gott zu schachern, ihm Angebote zu machen. Genau für solche Situationen hat die Menschheit Götter erfunden: wenn noch Hoffnung besteht. Schwindet die Hoffnung, rufen die Menschen nicht mehr nach Gott, sondern nach ihrer Mama.
Adrian setzt sich auf die Bank, die Ellbogen auf den Knien, die Hände vor dem Gesicht, spürt seinen Atem heiß in den hohlen Händen. Er nimmt an seinen Fingern einen Duft von ihr wahr. Er atmet tief ein und hält die Luft an, so lang, wie er kann. Je länger sie da drinnen sind, desto ernster wird es. Er starrt in die Dunkelheit, die er geschaffen hat. Er betet.
Einmal, zweimal hört er das Geräusch von Schritten, das Geräusch der zurückschwingenden Flügel der OP -Tür. Jedes Mal steht er auf und geht an die Tür, aber bis er hinausschaut, ist schon niemand mehr zu sehen.
Er wünscht, er könnte schlafen, einfach um dann aufzuwachen und festzustellen, dass nichts von alledem passiert ist. Der Augenblick seiner Ankunft zu Hause, die Blutflecke an Mamakays Rock, der Anblick ihres vor Schmerz in sich zusammenfallenden Gesichts, ihrer Angst um das Kind, die Fahrt zum Krankenhaus, die katastrophalen Verkehrsverhältnisse.
Er versucht, sie noch einmal an seinen Fingern zu riechen, doch er findet den Duft nicht mehr. Vielleicht hat er ihn sich nur eingebildet.
Zwei Uhr. Ein Nachtfalter knallt immer wieder mit dem Kopf gegen die Decke und die nackte grelle Glühbirne. Silbrige dunkle Schmierflecke auf der weißen Farbe. Adrian tut der ganze Körper weh, der Schweiß in seinen Achselhöhlen ist schon mehrmals getrocknet und wieder feucht geworden. Er braucht Luft. Er steht auf und verlässt das Zimmer und dann das Gebäude. Er bleibt auf dem Hof stehen. Auf dem überdachten Fußweg sitzen Leute, dicht aneinandergedrängt, auf einer ausgebreiteten Matte – vermutlich die Angehörigen des eingelieferten Mannes, darunter eine Frau, die gerade ein Baby stillt. Adrian wendet sich von ihnen ab, steht da und starrt in den Himmel. Er spürt, wie Tränen in ihm aufsteigen und wieder verebben. Er füllt sich die Lungen mit der warmen Luft. Er schließt die Augen. Ein Geräusch steigt in seiner Kehle auf, ein langer tiefer Seufzer, dessen er sich überhaupt nicht bewusst ist. Er ist verzweifelt.
Kurze Zeit später dreht er sich um und kehrt ins Gebäude zurück, den Gang entlang zu dem Zimmer, in dem er die halbe Nacht gewartet hat. Als er sich der letzten Tür nähert, sieht er durch die quadratische Glasscheibe, dass die Tür des OP-Saals offen steht. Sie kommen heraus. Er rennt los, sieht die erste Person auftauchen. Es ist Kai. Kai!
Doch Kai hört ihn nicht, dreht sich nicht um, schaut nicht auf, er zieht sich den Mundschutz vom Gesicht, und beim Gehen bekommt er kaum die Füße vom Fußboden hoch. Er hört Adrian deswegen nicht, weil Adrians Ruf bereits in seiner Kehle erstickt ist. Etwas an Kais Schulterhaltung. Und warum schlurft er so? Da stimmt doch was nicht. Adrian stößt die Tür auf, läuft los, den Korridor entlang.
»Kai!«
Beim Klang seiner Stimme hebt Kai den Kopf. Plötzlich sieht er nicht mehr geschlagen, sondern äußerst wachsam aus. Er wendet sich Adrian zu, geht los, ihm schnurstracks entgegen. Er geht schnell, wirklich schnell. Adrian schießt der Gedanke durch den Kopf, dass es doch merkwürdig ist: Kai kommt auf ihn zu, den Kopf gesenkt, die Arme hängend, die Fäuste geballt, und das so schnell. Jetzt hebt er die Arme. Adrian bleibt stehen und wartet, verwirrt, regungslos. So empfängt er die volle Wucht des Stoßes, spürt die Handballen, die Kai ihm gegen die Brust rammt. Alle Luft in seinen Lungen keucht ihm aus dem Mund. Atemlos klappt er vornüber, sieht Seligmann herbeieilen. Eine Schwester, die Augen rund über dem Mundschutz. Kais Gesicht über seinem, Kais Stimme, die im leeren Korridor hallt, ihn einen Dreckskerl nennt. Jetzt ist Seligmann da. Eine Hand auf jedem Mann, auf Kais Arm und Adrians Schulter. Seligmann drückt Adrian gegen die Wand, starrt ihm ins Gesicht.
Adrian möchte etwas sagen,
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