Lied aus der Vergangenheit
ihr einen Blick zu, konstatiert, dass ihre Augen ihm ausweichen.
54
Als Junge liebte Adrian viele Dinge. Er liebte das Gefühl von Freiheit, wenn er mit seinem Fahrrad durch die Gegend fuhr. Er liebte Wasser, Schwimmen, den eisigen Sog der Nordsee. Er liebte es, auf dem Rasen zu liegen und die Sonne auf seinen Augenlidern zu spüren. Er liebte Vögel, jede Art von Vögeln. Eines Sommers beobachtete er tagelang einen Zaunkönig dabei, wie er in den Kletterpflanzen vor dem Fenster seines Schlafzimmers sein Nest baute, beobachtete dann, als wäre es im Fernsehen, das Weibchen, wie es die Eier wärmte und später seine Jungen fütterte, ohne Adrian auf der anderen Seite der Glasscheibe zu bemerken. In einem anderen, an der See verbrachten Sommer war er die ganze Nacht aufgeblieben und hatte auf den dumpf dröhnenden Ruf der Rohrdommel gewartet. Als er endlich kam, schliefen seine Kameraden schon alle, und Adrian hatte sie nicht geweckt, sondern war die ganze Nacht lang wach geblieben in der Hoffnung, ihn noch einmal zu hören. Während er stundenlang in der kalten klaren Nacht dagesessen hatte, die Arme um die Knie geschlungen, umgeben von schlafenden Körpern, dem flachen Land und der unermesslichen Kuppel des Himmels, während das dunkle Wasser durch das Riedgras spülte, und auf den Ruf eines Vogels gelauscht hatte, der so selten war, dass er schon fast als ausgestorben gelten konnte, war er sich zum ersten Mal in seinem Leben seiner eigenen Sterblichkeit bewusst geworden. Es war, wie er später erkannte, das erste Mal, dass er sich als ein endliches Wesen wahrgenommen hatte, mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Bis dahin hatte er sich niemals vorgestellt, dass der Tod ihm etwas anhaben könnte. Er hatte keine Ahnung, warum es ausgerechnet in jener Nacht passierte, ob es mit der vom Aussterben bedrohten Rohrdommel zusammenhing oder von irgendwelchen Veränderungen an seinen Lebensumständen, etwa der Krankheit seines Vaters, ausgelöst worden war, oder ob er einfach ein Alter erreicht hatte, in dem er sich daran erinnern konnte, dass es eine Vergangenheit gab, und in dem die Zukunft ihm zum ersten Mal sichtbar, nicht verschwommen erschienen war, weiter reichend als lediglich bis zum Nachmittag oder zum nächsten Tag. Er war damals sechzehn.
In den folgenden Monaten und Jahren ließ er das Leben der Vögel hinter sich und tauchte in die Welt der Menschen ein, um zehn Jahre später seinen Abschluss in Psychologie zu machen. Mehrere Jahre später hatte er in Norwich auf der Straße zufällig einen seiner damaligen Zeltlagerkumpel wiedergetroffen, mittlerweile Vater von drei Kindern und Inhaber einer chemischen Reinigung. Dem Mann war überhaupt nichts mehr von diesen Sommerferien in Erinnerung gewesen. Als Adrian nachbohrte, schüttelte er den Kopf und zuckte die Achseln. Adrian hatte vom Ruf der Rohrdommel gesprochen. Ich nicht, sagte der Mann. Ich hab mein ganzes Leben hier verbracht und noch nie eine Rohrdommel gehört. Und da erinnerte sich Adrian, dass niemand außer ihm den Vogel gehört hatte, sodass er unmöglich überprüfen konnte, ob das je wirklich geschehen war. Es gab Tage, etliche, an denen er glaubte, dass diese Nacht ein bloßer Traum gewesen war.
Jetzt, da er auf dem Korridor steht, in den kränklichen Schatten der Leuchtstoffröhren, kehrt er dorthin zurück. Zur Nacht der Rohrdommel, zum Ort der Abgeschiedenheit und Sterblichkeit. Er hat nicht die geringste Ahnung, wie das alles enden wird, nur dass es mit Sicherheit enden wird. Er versucht, sich in irgendeiner Zukunft vorzustellen, irgendwo jenseits dieses Zeitpunkts, aber es gelingt ihm nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig als weiterzuexistieren, in genau diesem Hier und Jetzt. So muss die Hölle sein. Warten, ohne zu wissen. Nein, nicht die Hölle, das Fegefeuer. Schlimmer als die Hölle.
Eine Schwester kommt zu ihm und fragt ihn nach seiner Blutgruppe. Adrian weiß sie nicht. Sie sticht ihm in den Finger, streicht das Blut auf einen Objektträger und verschwindet wieder. Adrian saugt fest an seinem Finger, holt die Tropfen gewaltsam heraus, erinnert sich plötzlich daran, wie er auf der halb fertigen Terrasse vor dem Haus seiner Mutter mit einem Splitter im Finger dastand. Es fühlt sich eher wie ein Traum als wie eine Erinnerung an.
Leute kommen und gehen, durch die Tür des OP-Saals, an ihm vorbei. Irgendwann wird er aufgefordert, von wem, weiß er nicht mehr, den – streng genommen sterilen – Bereich zu verlassen. Man
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