Lied aus der Vergangenheit
was die Hinterbliebenen immer sagen? Dass alles so normal erschien an dem Tag, als sich ihr Leben für immer änderte? Der blaue Himmel, die fallenden Blätter, das Lied im Autoradio, der Unfall.
Was blieb anderes übrig, als Whisky nachzuschenken.
»Sie wollte, dass das Baby hier aufwächst«, sagt Adrian, noch immer zum Fenster gewandt.
»Ich weiß«, sagt Kai. Ich weiß.
»Sie war hier glücklich.«
»Wir waren alle hier glücklich, früher einmal.«
Adrian steht am Fenster, ohne sich zu bewegen, und sagt auch nichts mehr. Hinter sich hört er das Schwappen der Flüssigkeit in Kais Glas. Nach vielleicht zehn Minuten setzt er sich wieder hin. »Weißt du«, sagt er, »es gibt Methoden, um die Albträume unter Kontrolle zu bringen«.
Kai zuckt die Achseln. Die Geste wirkt seltsam bei ihm.
»Irgendwann. Wann immer du dazu bereit bist«, schlägt Adrian vor. »Es hat keine Eile.«
Wieder Schweigen. Plötzlich richtet Kai sich auf und stellt sein Glas hart auf den Tisch.
»Jetzt.«
»Was?«
»Wir machen es jetzt. Na los.«
»Ist das dein Ernst?«
Wieder dieses entsetzliche Achselzucken. »Klar.«
Adrian atmet tief durch. »Wenn du möchtest, können wir es auch ein anderes Mal machen.«
»Ach so«, sagt Kai. »Kommen Sie zu einem passenderen Zeitpunkt wieder.«
Adrian spürt den unhörbaren Knall, mit dem ein Strang seiner Selbstbeherrschung zerreißt. Er steht auf und geht in die Küche, wo er sich, heftig atmend, auf die Arbeitsfläche stützt. Er gießt sich ein Glas Wasser ein. Draußen hat sich die Dunkelheit in Grau verwandelt, das sich in Richtung Morgen abschattiert. Adrian richtet sich auf, hebt den Vorhang und schaut nach draußen. Ein Wärter kehrt den Fußweg. Adrian hört das Kratzen des Besens, seltsam aus dem Takt mit den Bewegungen des Mannes, wie in einem schlecht synchronisierten Film. Kai hat recht. Jahrelang wollte niemand was von dem Gemetzel, von den Vergewaltigungen hören. Die Außenwelt schaute beiseite, nur ein bisschen, das reichte. Die Aufsplitterung des Gewissens. Im Ernst, was glaubte Adrian, was er hier eigentlich tat? Um ehrlich zu sein – er hatte es nie so richtig gewusst. Gelegentlich hatte er kurz davorgestanden, etwas wie eine Überzeugung zu spüren, nur um sie wieder zu verlieren. In Mamakay hatte er zuletzt etwas gefunden. Etwas anderes, etwas Besseres. Er könnte aufheulen und schreien, die Faust durch die Fensterscheibe rammen. Attila hat recht, Kai hat recht. Was die Menschen brauchen, ist Hoffnung, und letzte Nacht hat Adrian erfahren, was es bedeutet, sie zu verlieren. Er presst die Stirn gegen die Glasscheibe.
Er will etwas, was er nie wieder haben kann.
Er will nach Hause.
Kai sitzt mit geschlossenen Augen im Sessel, den Unterarm auf der Lehne, die Finger locker um das Whiskyglas geschlossen. Zum ersten Mal bemerkt Adrian die IV -Nadel, die mit Heftpflaster an der Innenseite seines Arms befestigt ist. An der Brust seines T-Shirts ist ein Blutfleck. Adrian beugt sich vor und nimmt ihm das Glas aus der Hand.
»Geh schon. Leg dich schlafen«, sagt er.
Kai lacht leise. »Ich dachte, du wüsstest es, Mann. Schlafen gehört nicht zu meinem Repertoire.« Er schließt die Augen wieder. Nach einer Weile sagt er: »Ich meinte es ernst, weißt du.«
Tageslicht. Lärm. Adrian wacht aus einem Traum auf. Er fuhr in einer Rikscha auf einer zerfurchten Straße. Er bemerkte, dass er keine Schuhe anhatte. Er rief dem Rikschafahrer zu, er solle halten, und stieg aus, um an den Marktständen ein Paar Schuhe zu suchen. Es gab nirgendwo welche, er geriet allmählich in Panik. Er würde noch zu spät kommen. Zu spät zu was, wusste er allerdings nicht. Mamakay erschien und zeigte auf ein Paar schwarze Flipflops. »Die tun’s schon«, sagte sie. »Bist du sicher?«, erwiderte Adrian. Jetzt, wo sie bei ihm war, fühlte er sich schon besser. Sie lächelte. »Ja«, sagte sie. »Es spielt wirklich keine Rolle.« Pfeile von Sonnenlicht. Rings um ihn verflüchtigen sich die Bilder. Die Wirklichkeit verdrängt den Traum: die Wohnung, die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er fühlt sich steif und angeschlagen, als habe man ihn verprügelt. Von draußen der Ruf eines Hahns. Das Bild ruckelt weiterhin. Adrian schaut auf und sieht, dass Kai im Schlaf zittert. Er richtet sich auf und berührt seine Schulter. »Du träumst«, sagt er.
Kai schlägt die Augen auf, blinzelt und wischt sich über den Mund. »Tut mir leid.« Er steht auf und geht ins Bad. Als er wieder herauskommt, sind
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