Lied aus der Vergangenheit
sein Gesicht und sein Hals, die Brust seines T-Shirts feucht. Adrian, der in der Küche ist, spürt Kais Anwesenheit, als dieser lautlos hereinkommt und hinter ihm stehen bleibt. Er schaut zu, wie die Kaffeekörnchen sich im heißen Wasser auflösen.
»Ich wäre bereit, es zu versuchen – wenn du es willst, heißt das. Wir könnten etwas probieren«, sagt Adrian.
»Was denn?«
»Es würde bedeuten, dich in die auslösende Situation zurückzuversetzen.«
»Hypnose.«
»Keine Hypnose. Ich werde dich nicht in dem Sinne in Trance versetzen, aber ich werde dich auffordern, dich auf das zu konzentrieren, was damals geschehen ist. Es ist eine Möglichkeit, vergangene Ereignisse aufzuarbeiten und dich für ihre Wirkung zu desensibilisieren – ich meine, dafür, wie du sie für dich beurteilst –, wenn wir erst einmal wissen, um welche Ereignisse es sich handelt. In diesem Fall wissen wir es, zumindest weißt du es. Es kann die Symptome lindern, die Träume, die du hast.«
»Funktioniert es?«
»Ich glaube schon. Aber ich muss dich ehrlicherweise warnen …«
Kai unterbricht ihn. »Kann es die Sache verschlimmern?«
Adrian atmet aus. »Nein«, sagt er.
»Was habe ich dann zu verlieren?«
55
Kai folgt mit dem Blick Adrians sich hin und her bewegendem Zeigefinger. Er kann hören, wie es in seinen Augenhöhlen rhythmisch klickt. Er konzentriert sich darauf, den Finger nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal scheint er ihm eine Millisekunde voraus zu sein, manchmal ihm um den Bruchteil eines Taktschlags hinterherzuhinken. Er sitzt auf einem Stuhl, nicht dem weich gepolsterten Rattansessel, sondern auf einem harten Stuhl mit gerader Lehne, beide Füße flach auf dem Boden. Adrian sitzt ihm gegenüber, einen guten halben Meter nach rechts versetzt. Er hält seinen Zeigefinger in die Höhe.
»Lass meinen Finger nicht aus den Augen.«
Kai folgt der Bewegung, von links nach rechts, von rechts nach links. Er wird sich nach und nach immer deutlicher seines Körpers bewusst, der miteinander zusammenhängenden Knochen, der Muskeln und Sehnen, die sich in den Gelenken spannen, des alles durchströmenden Blutes. Er spürt die Härte des Fußbodens, das Gewicht seines Körpers, das auf seinen Fußsohlen lastet, die körperliche Anstrengung, die es kostet, aufrecht zu sitzen, seinen Rumpf angespannt und im Gleichgewicht zu halten.
»Denk daran, was du empfindest, wenn du an die Brücke denkst, und daran, was damals geschah. Woran denkst du?« Adrians Stimme ist ruhig und monoton.
»Da war ein Mädchen. Sie hieß Balia.«
»Was war mit Balia?«
»Ich konnte sie nicht …« Kai unterbricht sich und schluckt. »Sie hat es nicht …« Er schüttelt den Kopf.
»Folge weiter meinem Finger.«
Kai konzentriert sich auf die Bewegung von Adrians Finger. Er atmet tief ein. Er zwingt seinen Geist zurück in die Vergangenheit.
Er geht den Korridor des Krankenhauses entlang, steigt über Männerkörper, den chemischen Geruch von Blut in der Nase. Die Geräuschkulisse besteht aus gebrüllten Befehlen, Quietschen von Rollbahrenrädern, dem Wimmern und Stöhnen der Verwundeten. Hinter den Menschenstimmen ertönen der Trommelwirbel von Maschinengewehrfeuer, die Bassbegleitung von Mörsergranaten, die in den Hügeln und im Ostteil der Stadt explodieren.
Tag achtzehn. 24 . Januar 1999 . Sämtliche Ärzte und Pflegekräfte, die man hatte erreichen können, waren zum Dienst angetreten. Die Stationen befanden sich in einem Zustand des Dauerchaos. Alle Nicht-Notfälle waren entlassen worden, um Platz für die Neuzugänge zu schaffen, selbst die Kinderstation hatte man geräumt. Gerade so, als wäre eine Seuche ausgebrochen, eine Seuche, die Männern die Brust aufriss, Glieder wegsprengte, sich durch Muskeln und Knochen fraß, Schrapnellkugeln durch weiches Fleisch jagte. Nächte am Stück tat Kai kein Auge zu – oder schlief im Stehen, denn er hatte keinerlei Erinnerung daran, geschlafen zu haben, und konnte sich anschließend auch nicht denken, wo das hätte passiert sein können, da es kein freies Bett, keinen freien Stuhl oder auch nur eine Handbreit freien Fußboden gab. Er ging den Korridor entlang, das erste Mal seit vielen Stunden, dass er nicht im OP war. Als er das letzte Mal diesen Korridor entlanggegangen war, war es Tag gewesen, und jetzt war es wieder Tag.
Ein Geruch nach Kaffee. Im Aufenthaltsraum traf er die neue Krankenschwester dabei an, wie sie becherweise dünnen Kaffee brühte, große Mengen Zucker und Milchpulver
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