Lied aus der Vergangenheit
beieinanderstehenden Wände des Tunnels seiner Existenz und den Gedanken, dass er Mamakay nie wiedersehen wird. Der Gedanke ist zu ungeheuerlich, als dass sein Geist ihn festhalten könnte. Er lässt ihn los. Er sollte heimfahren, aber er will nicht. Er will nicht allein sein. Kais Gesellschaft ist immer noch der beste Ersatz dafür, mit Mamakay zusammen zu sein, auch wenn Kai wütend ist.
»Und, hast du?«
Adrian hat vergessen, worüber sie gesprochen hatten. Er schaut auf. »Habe ich was?«
»Geholfen? Hast du geholfen?«
Jetzt verspürt Adrian einen kleinen Sternenausbruch von Zorn. »Ja«, sagt er, um dem ein Ende zu machen. Er sieht im selben Moment auf Kai, als dieser aufschaut. Ihre Blicke begegnen sich. In Kais Gesicht liegt kalte Wut. Adrian macht den Mund auf. Er könnte Kai die Namen der Anstaltsinsassen nennen, über die Gruppensitzungen, die Gespräche mit Adecali reden. Über Attilas lächelnde Skepsis. Er schlägt die Augen nieder, reibt sich die Lider. Er spricht nichts davon aus. Es geht nicht darum. Und überhaupt hat alles, was er hier getan hat, keinen Wert. Er sagt: »Du hast Albträume.«
Ein weiteres Achselzucken. »Wer nicht?«
»Ein Haufen Leute. Ab und zu mal einen schlechten Traum vielleicht. Aber keine rezidivierenden Albträume. Keine Albträume, die einen nächtelang vom Schlafen abhalten. Keine Albträume, die zu Schlaflosigkeit – zu chronischer Schlaflosigkeit, meine ich – führen, sodass man tags darauf in seinen Funktionen eingeschränkt ist.«
»Ich verstehe«, sagt Kai. Er hat sich jetzt zurückgelehnt, betrachtet Adrian aus halb geschlossenen Augen. »Und da bist du dir sicher?«
»Wessen? Dass andere Leute nicht unter ständig wiederkehrenden Albträumen leiden? Ja. Da bin ich mir sicher. Obwohl ich mir auch sicher bin, dass es in diesem Land jede Menge Leute gibt, die das tun, Menschen, die ein schweres Trauma überlebt haben. Es wäre auch nicht normal, wenn es nicht so wäre.«
»Nein, ich meine, was mich angeht.«
»Ich weiß, dass du Albträume hast. Den Rest habe ich mir zusammengereimt. Ich weiß, dass du Angst hast, über die Brücke zu fahren. Die Brücke hinüber zur Halbinsel. Du fährst immer den Umweg außen herum.«
»Ja, du hast recht. Ich träume. Ich träume immer wieder dasselbe. Ich träume von etwas, was passiert ist. Ich könnte es dir erzählen, aber das würde nichts ändern. Du kannst es nicht ungeschehen machen. Und wie könntest du es jemals verstehen? Wie könntest du es je verstehen, ohne hier gewesen zu sein? Die Sache ist die, dass keiner von euch damals was davon wissen wollte – warum also jetzt auf einmal?« Kai sieht Adrian nicht an, er starrt in sein Glas, lässt die Flüssigkeit kreisen, Runde um Runde. Er hört auf, führt das Glas an die Lippen und trinkt, nimmt die kreisförmige Bewegung wieder auf.
Auf dem Tisch liegt ein kleiner roter Papierfächer. Adrian erkennt ihn als Mamakays. Bei einem ihrer Besuche zurückgelassen, als er noch hier wohnte, vielleicht sogar an dem Tag, als sie Kai sahen. Adrian streckt die Hand danach aus. »Du hast sie geliebt, ich weiß«, sagt er.
»Ja«, erwidert Kai. »Ich habe sie geliebt. Ich liebe sie.« Er schnaubt wieder leise und schüttelt den Kopf. Schweigen. Dann: »Es hat nie eine andere gegeben.«
Adrian steht auf und geht ans Fenster. Eine Katze durchquert einen Mondschatten, das Maul um ein kleines Tier geschlossen, eine Maus. Überall Tod. Alltäglicher Tod. Noch immer den Rücken zu Kai gewandt, sagt er: »Ich glaube nicht, dass sie je ihre Gefühle für dich verloren hat.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Tut es doch. Nicht für mich. Jetzt im Augenblick hasst du mich, das kann ich verstehen. Aber für sie spielt es eine Rolle. Und für dich.«
»Ich hasse dich nicht.«
»Ich glaube, sie hat dich nach wie vor geliebt«, sagt Adrian. Da, jetzt hat er es ausgesprochen, das eine, das er sich nie zu denken gestattet, das ihn aber trotzdem die ganze Zeit gequält hat. Kai und Mamakay waren sich in so vieler Hinsicht so ähnlich … Vielleicht ist das der Grund, warum Adrian sie beide ins Herz geschlossen hatte. Er erinnert sich an seine Eifersucht auf Kai. Er ist jetzt nicht mehr eifersüchtig. Das Gefühl ist verflogen, ausgetilgt von allem, was geschehen ist.
Ein Stationshelfer auf dem Weg zur Arbeit bewegt sich wie ein Schatten die jenseitige Wand entlang. Adrian folgt ihm mit den Augen, bis er um die Ecke biegt. Das Leben geht wie gewohnt weiter. Ist es nicht das,
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