Lied aus der Vergangenheit
Seligmann fragen, wie es Mamakay geht, denn Seligmann weiß es mit Sicherheit und wird es ihm sagen. Er versucht, Luft zu holen, die Worte zu artikulieren, doch er schafft es nicht.
Vier Uhr. Adrian stellt das Glas auf den Tisch zurück. Er beobachtet die Bewegung seiner Hand, registriert, wie das Glas hart auf die Tischplatte auftrifft. Ihm gegenüber sitzt Kai. Sie sind in der alten Wohnung, die jetzt wieder, wie früher, als Schlafgelegenheit für Personal in Bereitschaft fungiert. Salz ist an Adrians Wange getrocknet, seine Haut ist trocken und spannt. Er spürt, wie sich sein leerer Magen rhythmisch zusammenzieht, doch ohne das gleichzeitige Verlangen nach Essen, und er betäubt die Krämpfe mit Whisky. Sie schweigen. Seligmann ist schon lange gegangen, da er wusste, dass er weder gebraucht noch erwünscht war. Der Whisky ist seine freundliche Gabe. Sie sind beide nicht betrunken. Adrian wäre es allerdings gern.
Ein Seufzer von Kai, der mit geballter Faust dasitzt und kopfschüttelnd zu Boden starrt. Während der letzten drei Stunden ist seine Stimmung immer wieder die kurze Distanz zwischen Trauer und Wut hin und her gependelt. Adrian hat geweint, aber Kais Augen sind bislang trocken geblieben. »Manchmal red ich mir ein, es könnte wirklich endlich vorbei sein«, sagt er.
»Es könnte was vorbei sein?«
»Das Sterben, das Töten. Dass das blutdürstige Dreckschwein da oben vielleicht fürs Erste genug haben könnte. Oder sich vielleicht zur Abwechslung jemand anders aussucht.«
Adrian schweigt.
»Warum? Verdammte Scheiße, warum? «
»Ich weiß es nicht«, sagt Adrian.
»Sie hat alles andere überstanden, hat den Krieg überlebt. Sie hatte nie Angst, weißt du. Ich hab während der ganzen Zeit nie erlebt, dass sie Angst gehabt hätte. Es gab Zeiten, wo ich Angst hatte, weiß Gott, ja – aber sie nicht. Nicht mal, als sie heute Abend eingeliefert wurde. Angst ist in ihrem Wortschatz gleichbedeutend mit Niederlage. Angst wovor, spielt keine Rolle. Der Trick ist einfach – nicht nachgeben.« Wenn er von Mamakay spricht, springt er zwischen den Tempora hin und her, vom Präsens zum Präteritum zum Präsens. »Als ob der Tod ein großer Hund wäre oder was in der Art. Man sollte ihm niemals zeigen, dass man Angst hat. Das habe ich ihr einmal gesagt. Das hat ihr gefallen. Der Tod ein Hund. Oder vielleicht war’s auch das Schicksal. Ja, das Schicksal – du darfst dem Schicksal niemals zeigen, dass du Angst hast.«
»Das glaube ich«, sagt Adrian.
»Was?«
»Dass sie das Schicksal wie einen großen Hund behandelte.«
Kai lacht, als erinnere er sich an etwas anderes. Einen Moment später fällt ihm das Lächeln aus dem Gesicht, und er ballt wieder die Faust. Sie schweigen minutenlang.
»Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll«, sagt Adrian.
»Geh nach Haus.«
Adrian blinzelt und schaut zu Kai auf.
»Geh nach Haus«, wiederholt Kai. »Wozu zum Teufel bist du überhaupt hergekommen?« Er klingt müde und hebt nicht die Stimme.
Adrian schlägt die Augen nieder.
»Nun?« Diesmal lauter.
Noch immer gibt Adrian keine Antwort.
Kai fährt fort: »Ich mein’s ernst. Das ist keine rhetorische Frage. Warum bist du hergekommen? Und hast du gefunden, was immer du gesucht hast?« Er gleitet wieder in Richtung Zorn ab, von dem Adrian in dieser Nacht schon eine Menge abbekommen hat.
Adrian muss an ihre erste Begegnung denken, hier in diesem Zimmer. Kai hatte Adrian einen Touristen genannt, hatte immer sein Recht hier zu sein infrage gestellt, selbst noch nachdem sie Freunde geworden waren. »Wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas gesucht habe?«
Kai zuckt die Achseln, starrt weiter auf den Fußboden. »Jeder, der herkommt, will irgendetwas, mein Freund. Du, schätze ich mal, bist hergekommen, weil du ein Held sein wolltest. Also, fühlst du dich jetzt wie einer?«
Adrian kann Kais Zorn verstehen. Wäre Adrian nicht hierhergekommen, hätten diese Dinge niemals stattgefunden. Mamakay wäre noch am Leben. Das ist die Logik der Trauer. Genauso, denkt Adrian, wäre sie, wenn er sie von hier weggeholt, mit nach England genommen hätte, ebenfalls am Leben. Er antwortet ruhig: »Du weißt, warum ich hergekommen bin. Ich wurde als Mitglied eines Ärzteteams hergeschickt. Ich kam hierher, um zu helfen. Das ist alles.«
Jetzt, wo Adrian auf die Vergangenheit zurückblickt, erscheint sie ungeordnet, wie ein Durcheinander von Tagen, Wochen und Monaten. Schaut er nach vorn, sieht er nichts, nur die eng
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