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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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bewiesen, dass Wale niemals die Intelligenz des Homo sapiens besaßen? Und selbst wenn, so war es doch naheliegend, dass sie nicht mit dem Menschen auf eine Stufe zu stellen waren, mit dessen Brillanz, Dinge zu erschaffen, seinem Erfindergeist, seinem enormen Schöpfungspotenzial.Was hatten Wale schon hervorgebracht? Nichts. Sie waren einfach nur.
    Sie waren einfach nur ... Wie oft war ihr dieser Satz in den letzten Stunden durch den Kopf gegangen wie der Refrain eines Liedes. Zig Millionen Jahre Evolution – und das war’s? Mehr nicht als einfach nur Dasein? Oder war es genau das: das Sein selbst als höchstes Ziel hinter allem? Einfach nur die Wahrnehmung dessen, was »ist«? Kein Gestern, kein Morgen, alle Energie auf diesen einen Moment ausgerichtet, auch wenn er ewig dauern konnte?
    Leah wollte sich nichts vormachen, sie war verwirrt. Vor ihr hatten sich Fragen aufgebaut, wie eine endlose Mauer, die sie nur dann überwinden konnte, wenn sie das Lösungswort kannte. Aber sie kannte es nicht.
    »Ich weiß nicht, vielleicht klingt das zu pathetisch, aber mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass Ihre Arbeit wichtiger ist, als die meisten Menschen da draußen ahnen. Fragen Sie mich nicht, wieso ... Es hat mit diesem Wal zu tun und mit etwas, was mir durch ihn erst langsam bewusst wird. Klingt das sehr seltsam?«
    Ihre Hocker standen nahe beieinander. Es hätte für beide nur einer winzigen Bewegung bedurft, die Hand des anderen zu berühren. David staunte nicht mal über die Tatsache, dass er eine derartige Geste in Erwägung zog.
    »Danke, dass Sie sich mir anvertrauen«, sagte er nach einer Weile. »Nein, es klingt nicht seltsam. Ich glaube, es ist das Schönste, was ich je gehört habe.«
    Dann schwiegen sie. Beide spürten, dass sie irgendwie miteinander zu verwachsen begannen, und es schien nichts zu geben, was sie daran hindern konnte. Alles war perfekt, so wie es war. Kein Wort, das gesagt werden musste, keine Gebärde, die gefehlt hätte. Zwei Wesen, die nicht nur die gleiche Luft miteinanderteilten, sondern auch die gleichen Gedanken und Gefühle. Keiner wandte den Blick vom anderen ab, keiner wollte, dass es endete.
    So saßen sie, bis Joe hereinplatzte. Ihm war sofort klar, dass es nicht der passendste Augenblick war, um auf der Brücke zu erscheinen. Zu blöd. Doch jetzt war er da, und es hätte seltsam gewirkt, wenn er wortlos verschwunden wäre. Er hatte eine bessere Idee.
    »Ich übernehm jetzt das Ruder. Hau dich in die Falle oder mach, was du willst. Hauptsache, du verschwindest von hier.«
    Ein zaghaftes Lächeln zeigte, dass David Joes Vorschlag zu schätzen wusste.
    »Begleiten Sie mich in die Kombüse? Vielleicht finden wir noch was zu essen.«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Ich weiß. Aber es geht das Gerücht, dass es ungünstige Folgen hat, wenn man nicht irgendwann wieder mit der Nahrungsaufnahme beginnt, Leah.«
    Leah – wie schön es war, diesen Namen auszusprechen.
    D er Wein ließ eine angenehme Wärme in ihre unterkühlten Glieder strömen. David hatte vorgeschlagen, sie solle, wenn sie immer noch Lust hätte, ihn zu interviewen, ihm einfach jetzt ihre Fragen stellen. Er wusste, dass dies der beste Weg war, um sie von dem Geschehenen ein bisschen abzulenken.
    Leah fühlte sich zurückversetzt. Es war wie damals vor sechs Jahren, in der kleinen Bar in New York. Als sie gehofft hatte, er würde sie in seine Arme nehmen und nie wieder loslassen.
    »Sie wollen doch sicher wissen, wie ein Aktienspekulant dazu kommt, von heute auf morgen ein Schiff zu besteigen, Wale zu schützen und der restlichen Welt den Rücken zuzukehren.«
    Leah nickte ihm nur zu. Unmittelbar nachdem sie heute Morgen mit Nick telefoniert hatte, wollte sie David alles beichten, war schon auf dem Weg zu ihm, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Wozu auch? Sie würde nichts gegen die »SeaSpirit« unternehmen, also brauchte sie sich in Davids Augen nicht noch schlechter zu machen.
    David lehnte sich ein wenig zurück, sah an die Decke und stieß die Luft aus. »Das hab ich mich in den letzten Jahren auch ein paar Mal selbst gefragt.«
    Sein Blick schien nach innen gekehrt, abwesend. Leahs Augen wanderten zu seinen Händen. Wie sehr hatte sie sich an dem Abend damals gewünscht, seine Hände zu berühren. Auch in diesem Moment spürte sie einen Impuls, sie zu umfassen.
    »Wissen Sie, es war eine sehr spontane Entscheidung«, meldete sich David aus seinem Gedankenexil zurück. »Steve hat Ihnen sicher schon

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