Lied der Wale
Sie begann zu schluchzen. Als könnte er damit die Wucht ihres Schmerzes lindern, legte David den Arm um sie und hielt sie fest.
So standen sie reglos an Deck, während es zu regnen begann – ein leichter Regen, kaum wahrnehmbar, der sich wie ein Schleier über alles legte.
Masao, Joe und Sam hatten längst das Schlauchboot wieder verstaut und den Kran abgeschaltet. Joe hatte David noch einen fragenden Blick zugeworfen, doch als der ein Nicken andeutete – Lass nur, ich kümmere mich um sie –, verschwand er mit den anderen.
Mittlerweile war auch die Decke völlig durchnässt, und David spürte, wie Leah darunter zitterte.
Es war ihr recht so. Je mehr ihr Körper fror, je mehr er sich bemerkbar machte, umso mehr würde dies, so hoffte sie, den Schmerz übertönen, der sie quälte.
E r stand alleine auf der Brücke und starrte in das dämmerige Licht, dessen Kontrast zum dunklen Meer nur allmählich geringer wurde, obwohl es schon nach Mitternacht war. Einer der Vorteile des Sommers in diesen Breitengraden. Die Wolken reflektierten das letzte Umbrarot der bereits versunkenen Sonne undtauchten die schneebedeckten Gipfel einer der Aleuteninseln vor ihnen in warmes Licht.
Vor wenigen Minuten hatte sich der Blas eines Wals gegen den Himmel abgezeichnet, und David war von diesem Anblick seltsam berührt. Wie lange noch würde es solche Begegnungen geben? Immer wieder nahm er sich vor, den Tod einzelner Tiere nicht mehr so nah an sich herankommen zu lassen, doch es schien ihm zunehmend schlechter zu gelingen.
Leahs Betroffenheit hatte jedenfalls mit dazu beigetragen, dass ihm der Tod des Wales mächtig zusetzte. Am liebsten hätte er so lange auf sie eingeredet, bis ihr Kummer verschwunden wäre. Doch sie hatte am Nachmittag darum gebeten, alleine sein zu können. Außerdem müsse sie anfangen, ihren Artikel zu schreiben. Genau genommen wusste er auch nicht, was er hätte sagen sollen. Worte des Trostes? Welche? Alle Tiere kommen in den Himmel? Jede Bemerkung musste wie blanker Hohn wirken.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Leah betrat die Brücke.
»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen.« Ihre Stimme klang brüchig, erschöpft. »Vorhin an Deck ... es tut mir leid, dass ich die Kontrolle verloren habe.«
»Leah, das ist doch kein Problem, ich ...«
Leah gebot ihm mit einer winzigen Geste zu schweigen. »Ich war wie von Sinnen. Ich hab so etwas noch nie erlebt, und ... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, dieser Wal ...« Leah stockte. Egal, was sie jetzt sagen würde, es würde der Sache nicht gerecht werden.
Doch David ahnte bereits, was sie ihm zu vermitteln suchte. Er kannte die Klippen, an denen die Sprache scheitern musste. Zu oft war es ihm selbst so ergangen. Zu oft hatte er das Unverständnis in den Gesichtern derer wahrgenommen, denen er versucht hatte, etwas von dem begreiflich zu machen, was sich währendeiner Begegnung mit einem Wal in ihm abspielte. Er deutete zu einem der Hocker, und Leah nahm Platz.
»Ich hab genauso reagiert wie Sie, gerade als ich die ersten Male mit so was konfrontiert wurde. Fragen Sie Steve. Hab mir seinerzeit die Lunge aus dem Leib geschrien.« Und später fast die Leber rausgesoffen, dachte er, aber das sagte er ihr nicht.
»Ich habe die Aktivitäten von Greenpeace und allen anderen Organisationen, die sich für den Schutz der Wale einsetzen, immer geschätzt«, fuhr Leah fort. »Und ich glaube, die meisten finden Walschutz o. k., und die Schlauchbootfahrer, die den Harpunen trotzen, sind die Helden von heute. Aber ich hab nicht gewusst, dass ...«
Leah suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden. Sie hatte nicht gewusst, dass diese Wesen da draußen im Ozean nicht einfach irgendwelche »Tiere« waren. Wollte sie das wirklich sagen? Dass sie gespürt hatte, dass dieser Wal in dem Becken dort nicht weniger war als sie .... Dass er ihr etwas gegeben hatte, was immer noch tief in ihr wirkte? Dass sie es noch nicht begreifen konnte oder erst zögernd zu verstehen schien? Offensichtlich hatte er eine Tür in ihr geöffnet, und sie wusste nicht, ob sie darüber glücklich sein sollte oder ob sie daran verzweifeln würde.
Obendrein meldete sich ihr innerer Zweifler. Hatte all das wirklich seine Ursache in der Begegnung mit dem Wal oder bloß in der Tatsache, dass er so tragisch gestorben war, und wurde dies deshalb von ihr selbst erzeugt, aus Trauer, aus dem Gefühl der Verzweiflung, der Mitschuld?
Hatte die Wissenschaft nicht längst
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