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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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verschwanden sie.«
    Leah spürte den Kloß im Hals und hoffte, nicht erneut von einer Tränenattacke überrollt zu werden.
    »Hab lange darüber gegrübelt«, hörte sie David sagen, »was mein Großvater eigentlich damit gemeint hatte, dass ich es nicht laut aussprechen müsse. Heute weiß ich, dass der Delfin alles verstand, was ich dachte, meine Sorge um ihn, mein Mitgefühl. Und als er mit mir schwamm, spürte ich, dass auch er mir etwas zu sagen hatte. Was ich aber leider nicht begriff. Damals nicht ... Langweile ich Sie?«
    »Keineswegs«, antwortete sie prompt und hoffte, dass ihre Stimme nichts von ihrer Aufgewühltheit verriet.
    »Nur für den Fall, dass ich Sie langweile ...«
    »Nun erzählen Sie schon weiter!« Und in einem etwas sanfteren Ton ließ sie schnell ein »Bitte« folgen.
    »O. k. Ich hab das wohl erst begriffen, nachdem ich Steve traf. Da war die Episode mit Jack in meinem Kopf längst verblasst. Na ja, ich war zwölf damals. Ein Jahr später begann ich mich für Mädchen zu interessieren, die Schule wurde härter, irgendwann machte ich den Führerschein, hatte die erste Freundin, die ersten Aktien, absolvierte mein Studium, ging in die Staaten, legte eine Finanzkarriere hin. Die Delfin-Geschichte war nicht mehr wichtig, sie war eine nette Erinnerung, wie ein altes, vergilbtes Foto – nur noch eine Anekdote auf Partys, kam gut bei Frauen an. Ich erinnerte mich noch an Jack, an die Rettungsaktion, aber das Band zwischen uns hatte ich vergessen.
    Dann hörte ich von Steve und seiner Whale-Watching-Tour. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht ein Ruf – keine Ahnung. Ich war damals nahe dran, mich vom nächstbesten Dach zu stürzen oder einfach nur in Apathie zu verfallen.«
    David nahm einen Schluck Rotwein und schien sich in seinen Erinnerungen zu verlieren. »Den ersten Tag bekamen wir keinen einzigen Wal zu Gesicht. Es war schwül, die Sonne verbrannte uns die Haut, und alle waren ziemlich gereizt. Die Nacht verbrachten wir auf dem Schiff, doch an Schlafen war für mich nicht zu denken. Es war ein Tag vor Vollmond, tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf, und in der stickigen Kabine war es nicht zum Aushalten. Als ich an der Reling stand, hörte ich ein leises Plätschern. Dann sah ich ihn. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Er lag vor mir wie ein Wesen von einem anderen Stern, von einer Größe, die unendlich schien. Ein Finnwal. Sicher zwanzig Meter lang. Er hatte sich auf die Seite gelegt, sodass ermich in aller Ruhe betrachten konnte. Es war unheimlich, mystisch, ich war mir nicht mal sicher, ob das nicht alles Teil eines Traums war. Egal. Etwas ging von ihm aus, das mich zu ihm zog, und so nahm ich das Schlauchboot, um ihm näher zu sein. Wieso der Wal gerade beim Schiff war, wieso er mir so viel Aufmerksamkeit schenkte, keine Ahnung, damals überkam mich der Verdacht, er habe nur auf mich gewartet. Jedenfalls blieb ich fast die halbe Nacht bei ihm – oder er bei mir, wie man es auch auslegen will.
    Und so geschah es zum zweiten Mal, dass mir ein Wal aufmerksam zuhörte, ohne dass ich etwas laut sagte. Und ich spürte, dass ich hier einen Freund gefunden hatte, der mir die Gewissheit gab, dass es in Ordnung war, so wie mein Leben bisher verlief. Es war, als ob ich plötzlich begriff, dass wir alle einer Art rotem Faden zu folgen hatten, wie einem inneren Skript, nur geschrieben, damit sich das, was man Schicksal nennt, erfüllen kann. Es stand vollkommen klar vor meinen Augen, aber das Interessanteste war, dass auch die Zukunft vor mir lag wie ein offenes Buch und ich deutlich sah, dass ich auf dem Meer zu Hause war.
    Irgendwann war dann dieser ›Traum‹ zu Ende, und als ich mich wieder in die Koje legte, hatte ich hohes Fieber und Schüttelfrost, und schließlich schwitzte ich, so wie ich in meinem ganzen Leben noch nie geschwitzt hatte. Doch am nächsten Morgen fühlte ich mich um vieles leichter, hatte kein Fieber mehr, und es ging mir blendend. So gut, dass ich, als wir den Wal erneut sichteten, nicht anders konnte, als zu ihm ins Wasser zu springen. Wie ich einst zu Jack gesprungen war. Ich schwamm zu ihm. Und in dem Moment, als ich ihn berührte, wusste ich, was Jack mir mitgeteilt hatte.«
    Davids Lächeln wirkte verlegen. »Könnte mir vorstellen, es war das Gleiche, was Ihnen der kleine Wal gesagt hat. Auf die eine oder andere Weise. Lässt sich eben schwer in Worte fassen. Er sagte es jedenfalls auf eine Weise, die ich in unserer Welt vielleichteher der

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