Lied der Wale
Kopf, Nicks Freund, wer sonst. Aber er hatte Gott sei Dank nichts gefunden, sonst hätte Nick sie doch sofort ...
»Hi!« David hatte sie bemerkt.
Leah erwiderte seinen Gruß. Und überlegte, wie sie ihre in der Nacht gefasste Entscheidung formulieren sollte. Am besten direkt und ohne Umschweife.
»Ich würde gerne mit Ihnen hinausfahren, David.« Sie hatte mit Protest gerechnet, doch er schien es fast erwartet zu haben.
»Warum nicht. Sie wissen, wo die Anzüge sind. In zehn Minuten kann’s losgehen.«
Sie brauchte nur fünf, bis sie neben ihm im Boot saß.
Masao stoppte vierzig Meter vor einem der Riesen und drosselte den Motor. Der Wal lag reglos im Wasser, eine Seite nach oben gewandt, das Auge auf die Besucher gerichtet. Etwas weiter entfernt ließ sich ein zweiter Buckelwal treiben.
Selbst auf die Entfernung hin konnte Leah die vielen Erhebungen und Grübchen auf seinem Rücken erkennen. Der näher bei ihnen im Wasser treibende Wal bewegte eine seiner Seitenflossen. Es wirkte auf Leah wie ein Winken.
»Sehen Sie die Zeichnung auf dem Flipper?«
Leah betrachtete das schwarz-weiße Muster und nickte.
»Sie ist bei jedem Buckelwal unterschiedlich, so was Ähnliches wie sein Fingerabdruck«, erklärte Masao.
Leah führte ihre Kamera ans Auge und begann zu fotografieren.Sie tat es für Michael. Er sollte an ihrem Abenteuer teilhaben können.
David bereitete sich für den Tauchgang vor. Er zog die Brille übers Gesicht, steckte den Atemregler in den Mund und hob den Daumen nach oben, bevor er sich aus dem Schlauchboot fallen ließ. Mit einem Mal tauchten beide Riesen synchron in die Tiefe. Etwas enttäuscht beobachtete Leah die Wasseroberfläche. Gerade als sie nicht mehr über die Wale nachgedacht, sondern sich nur noch ihrem Anblick hingegeben hatte, waren sie verschwunden.
»Keine Sorge. Die kommen wieder«, hörte sie Masao sagen, und sie beschloss, sich in Geduld zu üben. Entspann dich, lass dich treiben, so wie die Wale. Wenn sie tatsächlich so etwas wie ein Gespür entwickelt hatten für das, was Menschen dachten, dann wollte sie sie auf keinen Fall mit unsinnigen Gedanken belästigen.
Nach einer Weile konnte sie eine kleine Bugwelle ausmachen, die sich auf das Boot zubewegte. Masao hatte offenbar recht. Ein paar Meter vor ihr verschwand die Welle, und sie konnte verfolgen, wie der Wal langsam unter dem Zodiac hindurchtauchte. Leah erkannte die graublaue, ledrige Haut, übersät von unzähligen Entenmuscheln, die beiden Blaslöcher, die Beulen und staunte zum Schluss über die riesige, kraftvolle Fluke, die in ihrer Form Schmetterlingsflügeln ähnelte.
Bis zu siebzehn Meter, hatte sie gelesen. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von siebzehn Metern. Fast sieben Stockwerke waren das, oder fünfmal ihr Kleinwagen, Stoßstange an Stoßstange hintereinander, oder mehr als acht Betten wie ihres aneinandergereiht. Eben siebzehn Meter. Nichts jedoch hatte sie vorbereitet auf den Anblick von siebzehn Meter Wal an einem Stück. »Bist du o. k.?«, hörte sie Masao fragen.
»Alles bestens«, antwortete Leah, sobald sie sicher war, ihreStimme so weit zu beherrschen, dass sie nicht ihre flatternden Nerven verriet. Diesem Giganten so nahe zu sein und seine enorme Größe, seine kraftvollen Bewegungen ganz dicht vor ihr wahrzunehmen, war, milde gesagt, ein bisschen erschreckend. Und überwältigend. Aber im Gegensatz zu Masao war ihr dabei mehr als nur mulmig zumute. Was wäre, wenn er seine Fluke als Tennisschläger missbrauchte, um Leah im hohen Bogen vom Platz zu schlagen? Michael zog sie schon damit auf, dass sie jedes Mal, wenn sie im Schwimmbad einen vielversprechenden Anlauf auf dem Dreimeterbrett nahm, es irgendwie doch immer wieder schaffte, das halsbrecherische Unterfangen kurz vor dem Sprung in die Tiefe abzubrechen. Die Befürchtung, hier dank der riesigen Fluke mittels Katapultstart in die ewigen Jagdgründe befördert zu werden oder zumindest eine ganze Strecke vom Boot entfernt im eiskalten Pazifik zu landen, schien jedoch nicht ganz unbegründet. Woher sollte ein Wal wissen, wie zerbrechlich das menschliche Knochengerüst war? Selbst wenn er nur spielen wollte, so wie Delfine, die immer spielen wollen, warum also nicht auch er. Delfine waren schließlich auch Wale.
Der Wal wendete und tauchte erneut unter dem Zodiac hindurch. Anschließend schwamm er bedächtig neben sie und rollte sich seitwärts. Deutlich waren seine Kehlfurchen zu erkennen, die vom Kinn bis zu den
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