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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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Musik zuordnen würde. Sie hören Miles, und irgendwie spricht er zu Ihnen, ohne Worte, in einer anderen Sprache, einer metaphysischen. Und Sie reagieren darauf, verstehen Sie? Und eine solche metaphysische Verbindung besteht auch zwischen mir und den Walen. Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu begreifen.«
    Jedes seiner Worte entsprach dem, was auch Leah erfahren hatte, es war fast so, als hätte sie den Bruchteil einer Sekunde vorher schon gewusst, was er ihr erzählen würde, als hätte sie es ihm souffliert. Sie hatte das Gefühl, dass alles, was diesem Mann zugestoßen war, einen Sinn ergab und dass sein Leben genauso verlaufen musste, wie es verlaufen war, auch wenn sich vieles davon mit schmerzhaften Erfahrungen verband. Auch für sie. Und in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, ihn zu lieben.
    Jetzt drehst du völlig ab, Leah Cullin, meldete sich eine ihr wohlbekannte Stimme. Wirf mal unauffällig einen Blick zu dieser Weinflasche. Was siehst du da? Richtig, nichts siehst du da. Hast sie fast alleine ausgetrunken. Also lass die Gefühlsduselei und warte bis morgen früh, wenn du wieder bei Sinnen bist.
    Sie musste an den kleinen Wal denken, und erneut stiegen Tränen in ihr auf, diesmal unaufhaltsam. Sie konnte sich einfach nicht dagegen wehren, genauso wenig wie gegen das Bild seines toten Körpers, wie er lautlos im Meer versank. »David, er hatte keinen Namen. Ich hab ihm keinen Namen gegeben, als er noch lebte.«
    Er wusste, was sie meinte.
    »Er hätte einen Namen haben müssen, immer, wenn ich ihn vor mir sehe, heißt er nur der kleine Wal – verdammt, ich will jetzt nicht heulen.« Wieder wischte sie über ihre Augen. David zauberte ein Taschentuch hervor. Sie tupfte sich das Gesicht damit ab und erkannte, dass sich ihr Make-up weiträumig verteilt haben musste.
    »Wenn sie alle einen Namen hätten, wäre das Sterben nicht so anonym. Ich bin sicher, wenn ein Wesen einen Namen hat, kann man es nicht so einfach töten.«
    »Da haben Sie vielleicht recht. Sogar die Cops der Mordkommission nennen Opfer, deren Namen sie nicht kennen, ›John Doe‹, um nicht immer von ›der Leiche‹ sprechen zu müssen.« Er überlegte und fragte dann: »Was halten Sie davon, wenn wir ihn Jonas nennen?«
    Leah nickte ihm dankbar zu, und David fragte, ob er das Taschentuch kurz haben könnte. Behutsam wischte er die Spuren der verlaufenen Wimperntusche aus ihren Augenwinkeln und reichte ihr das Tuch zurück.
    »Entschuldigen Sie, aber ich nehme an, es war in Ihrem Sinn.« Er lächelte sie an mit dieser anziehenden Mischung aus Machotum und Fürsorge.
    Gerade als sie sich bei dem Gedanken erwischte, warum es ihr nichts ausmachte, dass sie sicherlich wie ein Schreckgespenst aussah, hörten sie Masao rufen. Die Schule der Buckelwale war in Sicht.
    S icher hundert Tiere«, meinte Steve, dessen Augen irritiert zwischen David und Leah hin und her wanderten, als die beiden die Brücke betraten, »eine riesige Schule!«
    Alle waren da, Joe, Sam, Govind, Steve, Masao, sogar Marek hatte seine Kombüse verlassen.
    Das Geräusch einer Fontäne lenkte ihren Blick aufs Meer. Da die Brücke nur schwach vom Schein der Instrumente erhellt war, konnten sie in der Ferne die Wolke eines Walblas in sich zusammenfallen sehen und erkennen, wie die feinen Tröpfchen im Mondlicht flirrten. Wenige Sekunden später schoss ein Wal durch die Meeresoberfläche, drehte sich in der Luft und landete,während er Unmengen Wasser durch die Gegend wirbelte, wieder in seinem Element.
    Leah war immer noch aufgewühlt von ihrem Gespräch. Und sie spürte, dass es ihr unter all den Menschen hier zu eng wurde.
    »Ich geh noch mal an die frische Luft«, flüsterte sie und verschwand.
    Sie holte ihre Jacke und verkroch sich am Bug des Schiffes. Kein Wölkchen trübte den Himmel, und der Mond schien nur dazu da, die Nacht der Wale zu beleuchten. Sie erinnerte sich daran, den Gesang der sich vor ihr tummelnden Kolosse mit ihren überirdisch sehnsuchtsvollen Tönen, die wie aus einer anderen Welt zu kommen schienen, schon einmal vernommen zu haben, glaubte, sie regelrecht hören zu können, auch wenn dies unmöglich war, denn erstens hätte man dazu ein Unterwassermikrofon benötigt, und zweitens war gerade keine Paarungszeit. Also musste es etwas anderes sein, was sie deutlich spürte: War es die Präsenz der Wale oder vielleicht die Tatsache, dass sie ihre Gefühle für David McGregor einfach nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermochte? Es war das erste

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