Lied der Wale
auf und ließ sie mit ihrer Entscheidung allein. Leah war erleichtert, dass er sie anscheinend in keiner Weise beeinflussen wollte. Sie griff zu ihrer Ausrüstung, steckte den Atemregler in den Mund und setzte sich an den Rand des Schlauchboots. Dann überfiel sie die Panik, und sie fand die Vorstellung, die sie gerade noch so begeistert hatte, alles andere als erstrebenswert. Jetzt oder nie. Doch ihre Glieder verweigerten jede Bewegung. Sie fürchtete schon, es würde auf ein Nie hinauslaufen, als Masao ihr zulächelte und den Daumen in die Luft streckte.
»Jetzt.«
Staunend über sich selbst ließ Leah sich nach hinten fallen und tauchte in ein Meer von Angst. Und von Blasen. Schnell versuchte sie sich damit zu beruhigen, dass sie sich nur auf die Atmung zu konzentrieren hatte. Einatmen.
Und aus. Und ein.
Nach wenigen Atemzügen hatte sie sich immerhin so weit im Griff, dass ihr Blick umherzuschweifen begann. David erschien an ihrer Seite und fragte mittels Fingerzeichen, ob alles in Ordnung sei. Wenn sie auch lange nicht mehr getaucht war, diese Sprache hatte sie zum Glück noch fest in ihrem Gedächtnis gespeichert. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dasser später ihren Dialekt kritisierte ... Nein, das war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste wäre, wenn gleich irgendein monströser, zähnefletschender, dunkler Schatten aus der Tiefe auf sie zustoßen würde. Bloß nicht dran denken, Leah, solche »Schatten« gibt es nur in blöden Horrorfilmen, wo sie Richard Dreyfuss den Garaus machen. Bevor die Fantasie gänzlich mit ihr durchging, konzentrierte sie sich auf David und gab ihm das Okay. Sie hielt sich direkt hinter ihm und bemühte sich, nicht viel mehr zu erblicken als das beruhigende Auf und Ab seiner Flossen.
Dann kam der Schatten. Wie eine Wand baute er sich vor ihnen auf. Noch bevor David in seine Richtung deuten konnte, hatte sie ihn schon wahrgenommen: einen Buckelwal, unermesslich groß und beängstigend nah, aber Gott sei Dank eindeutig ein Wal. Da sie jedoch nicht wusste, ob alle Wale an Davids Theorie glaubten, hielt Leah sich zurück. Was der Wal ebenfalls tat. Ein Gentleman, ohne Zweifel.
David reduzierte sein Tempo und ließ sich gemächlich in die Richtung des Wals gleiten. Ein paar Meter weiter nahte ein zweiter großer Schatten. Zwei riesige Berge schienen sich wie in Zeitlupe direkt vor Leah zu bewegen. Erschreckend und bedrohlich. Ihr Anblick war ihr fast unerträglich. Zumindest wollte ein Teil ihres Gehirns Leah dies einreden. Ein anderer Teil versuchte, sie zu beruhigen: Schau dir David an. Erinnere dich an Jonas, den kleinen Wal. Doch der war gelähmt gewesen und hatte, verglichen mit seinen Kollegen hier, gerade mal Schoßhundformat gehabt.
Sich vom Boot aus Begegnungen mit Walen vorzustellen, wirkte regelrecht romantisch im Vergleich zu dem, was sie gerade tat: In einem enganliegenden Tauchanzug, abhängig von einer funktionierenden Pressluftflasche und mit durch die Brille eingeschränktem Gesichtsfeld, auf diese Giganten zuzuschwimmen.
Sie sah, wie David um das Tier herum schwamm, wie er offenbar Kontakt mit ihm aufzunehmen begann und wie der Buckelwal in das Spiel einstieg. So bewegten sich die beiden einer mystischen Choreografie folgend langsam umeinander. Leah war von dem Schauspiel so fasziniert, dass sie alles andere vergaß. Auch den zweiten Wal, der sich unversehens in Leahs Richtung gedreht hatte und ... Er kommt direkt auf mich zu , schoss es Leah durch den Kopf.
Und er kam.
N ick blickte auf die Uhr. Die Zeit wurde knapp. Warum ging Leah nicht an den Apparat? Er hatte in den letzten drei Stunden mindestens zehn Mal ihr Handy klingeln lassen. Und davor hatte er schon zwei SMS geschickt, in denen er sie dringend um Rückruf bat. Wieder fiel sein Blick auf den Stapel Papiere, den der Drucker vor wenigen Stunden ausgespuckt hatte. Das waren echte Neuigkeiten. Gestern noch hatte er Leah berichtet, dass das Konto der Walheinis keine Auffälligkeiten aufwies, und heute schon sah die Welt ganz anders aus.
Abermals wählte er die Nummer ihres Handys. Nein, für eine SMS war die Information eindeutig zu lang, außerdem wollte er etwas so Brisantes lieber fernmündlich austauschen. Und gleich die entsprechende Anerkennung einheimsen.
Inzwischen war es kurz vor sieben. Wenn er nicht langsam in die Gänge kam, würde er zu spät am Kino eintreffen. Und er wollte das zarte Pflänzchen der Liebe, das ihn mit seiner neuen Angebeteten verband, nicht durch
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