Lied der Wale
sich befand. Wo sich dieser bärbeißige Seelenverwandte aufhielt, der sich so gerne hinter seiner Mauer der Unnahbarkeit versteckte. Selbst wenn er ihre Liebe nicht erwiderte.
»Wir müssen den Menschen eure Tätigkeit zugänglich machen. Was, wenn wir die Daten über die Wale ins Internet stellen? Und eine Webcam auf dem Vordeck installieren?«
»Oh ja, unbedingt, die ›SeaSpirit‹ als schwimmender Big-Brother-Container, und die Rechte verkaufen wir einem Sender.«
Aus einer plötzlichen Gefühlsaufwallung heraus kniff sie David in die Wange und zupfte daran. »Jetzt lass mich doch erst mal ausreden, du Miesmacher.«
Sie hatte es nicht geplant. Es war eine Geste der Vertrautheit, eine Geste, mit der sie eine Grenze überschritten hatte. Davids überraschter Gesichtsausdruck bestätigte sie darin.
»Entschuldige, ich – ich wollte nicht ...« Sie strich mit der Hand zärtlich über die eben noch malträtierte Stelle. Noch schlimmer. Oh Gott.
»Tut mir leid – «
Sie stürzte aus der Kapitänsmesse, flüchtete den Gang entlang zu ihrem Zufluchtsort am Bug des Schiffes. Wie konnte sie sich nur so lächerlich machen. Zum zweiten Mal. Und als wäre das nicht genug, fuhr ihr Magen Achterbahn, denn in ihr rumorte das schlechte Gewissen wegen ihres Verrats – David gegenüber, den sie ans Messer hatte liefern wollen. Und Geoffrey? Wir wollen doch Geoffrey nicht vergessen, meldete sich ungefragt die nervigste ihrer inneren Stimmen, wechselte sich ab mit der Unlust, wieder in ihr altes Leben abzutauchen. Und das alles nur wegen dieses ruppigen, bewundernswerten, verstockten, gutaussehenden,liebenswerten Mannes mit der Anziehungskraft einer uneinnehmbaren Festung.
Sie hatte ihn nicht kommen hören, aber sie spürte seine Gegenwart. Als sie sich umdrehte, stand er einen Meter entfernt von ihr.
»Entschuldige bitte. Ich lass dich ausreden. Was wolltest du mir sagen?«
»Ich will ...« Nicht mehr nach Hause, das wollte sie ihm sagen. Und dass du mich in deine Arme nimmst, David McGregor. Ich möchte dir endlich beichten, was ich bereit war, dir anzutun, und wie sehr ich mich deswegen schäme. Ich möchte deine Lippen berühren, deine Haut spüren. Ich will nicht von diesem Schiff runter, ich will mit dir zu den Walen schwimmen, dich lieben und verdammt noch mal für immer bei dir sein.
Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. »Ich will, dass wir Patenschaften für jeden Wal vergeben.«
»Was?«
»Patenschaften. Es ist ganz simpel: Ihr markiert die Wale. Damit sind sie nicht mehr nur Teil einer Statistik, sondern konkrete Wesen ...«
»Das sind sie ohnehin.«
»Ja, für dich, für uns, aber nicht für die Menschen da draußen.« Sie unterstrich ihre Worte mit einer ausladenden Geste, die den ganzen Horizont zu umspannen schien. »Ich weiß, dass es so was wie Patenschaften bereits gibt. Aber alle anonym. Wenn wir diese Daten öffentlich machen, wissen die Menschen, wo sich die einzelnen Wale befinden, ihre Wale. Wir vergeben – kostenpflichtig – eine Patenschaft und versorgen die Paten mit allen Einzelheiten, der Pate kann immer im Internet verfolgen, wo auf dem Globus sich ›sein‹ Wal gerade befindet. Und wir richten einen Newsletter ein, der alle regelmäßig informiert – und sie an die Gefahren, die ihren Schützlingen drohen, erinnert.«
Warum sagte er nichts, war es nicht eine tolle Idee? Oder ahnte er bereits das niedere Motiv, aus dem sie nicht zuletzt entstanden war: Leahs Wunsch, immer genau zu wissen, wo auf dem Globus er sich gerade befand?
»David, damit bekommen wir Geld in die Kasse, können vielleicht ein zweites Schiff kaufen. Die Menschen werden ihren Freunden, Bekannten, Kollegen von ihren ›Patenkindern‹ erzählen – wir entreißen den Wal der Anonymität des Meeres. Die Menschen schützen nicht, worüber sie nur hören, sie schützen nur das, wozu sie eine Bindung haben. Wir brauchen Gefühle und nicht nur dokumentarische Bilder, wir brauchen ...«
Sie hatte »wir« gesagt. Da gerade wieder. Wie schön dieses Wir in Davids Ohren nachhallte. Es klang wunderbar, klang so, als könnte es eine Zukunft haben. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. »Die Idee ist super, Leah. Unglaublich! Einfach großartig!« Dabei erwiderte er ihre Zutraulichkeit und kniff sie ebenfalls in die Wange.
Das Kribbeln zog sich durch ihren Körper, von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln. Außerdem konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich von den beiden Polen aus in der
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