Lied des Schicksals
waren beide tot, und er hatte eine sehr viel ältere Schwester, die irgendwo in Queensland verheiratet war. Das glaubte er zumindest. Seit sein Musiklehrer, den er sehr geliebt hatte, im letzten Winter an der Grippe gestorben war, lebte er allein.
Etty war zu unschuldig, um die wahre Natur dieser Liebe zu begreifen, und Alistair klärte sie auch nicht auf. Dafür schätzte er ihre Freundschaft zu sehr. Inzwischen wusste auch Etty seine Kameradschaft zu schätzen. Alistair schien ihre Gefühle auÃerordentlich gut zu verstehen und immer die richtigen Worte zu finden, damit es ihr besser ging.
Anfang März begann Meggan mit den Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach Langsdale. Diesmal würde sie nicht mit dem Küstendampfer fahren, sondern mit ihrem Bruder Hal, der mittlerweile drei Raddampfer besaÃ. Etty sollte dann zusammen mit drei weiteren Mädchen, deren Familien zu weit von Adelaide entfernt lebten, als Internatsschülerin bei Miss Hemingway wohnen.
SchlieÃlich kam der Zeitpunkt, da ihre Mutter in die Kutsche nach Goolwa am Murray River steigen musste, und erst jetzt wurde Etty mit einem Schlag bewusst, dass sie vor Ende des Jahres niemanden aus ihrer Familie wiedersehen würde. Sie klammerte sich an ihre Mutter und verabschiedete sich unter Tränen.
»Ich werde dich so sehr vermissen, Mama.«
»Wir dich auch. Lass uns jede Woche schreiben. Die Briefe sollten nicht länger als ein paar Wochen unterwegs sein. Ãbe fleiÃig mit Madame. Auch wenn sie ein bisschen seltsam ist, so ist sie doch eine fantastische Lehrerin. Miss Hemingway wird gut auf dich aufpassen. AuÃerdem habe ich bemerkt, dass du dich mit Alistair angefreundet hast. Er ist ein aufrichtiger junger Mann.«
»Ja, ich mag ihn sehr gerne. Er will mich auf dem Klavier begleiten, wenn ich bereit bin, öffentlich aufzutreten. Das heiÃt, wenn Madame damit einverstanden ist.« Sie versuchte zu lächeln, doch als sämtliche Reisenden aufgefordert wurden einzusteigen, schossen ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie drückte ihre Mutter fest an sich. »Ich hab dich lieb, Mama.«
»Ich hab dich auch lieb. Leb wohl, mein Schatz.«
Etty blieb auf dem Gehweg stehen, bis die Kutsche um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen war. Sie fühlte sich sehr einsam, so als lebte sie nicht in derselben Welt wie die anderen Menschen, die auf der StraÃe auf und ab liefen. Plötzlich wurde sie von einer furchtbaren Panik ergriffen. Am liebsten wäre sie hinter der Kutsche hergelaufen und hätte dem Fahrer zugerufen, er möge anhalten, damit sie auch einsteigen könne. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenschreckte, als plötzlich eine vertraute Stimme neben ihr sprach.
»Alistair! Was machst du denn hier?« Sie hatte sein Angebot, sie und ihre Mutter zu begleiten, entschieden abgelehnt.
»Ich lade dich jetzt zum Tee ein, und danach begleite ich dich zurück zu Miss Hemingway.«
»Oh, Alistair, das ist so nett von dir.« Sie lächelte und gab dann zu: »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
»Ich hab mir gedacht, du brauchst jetzt vielleicht ein bisschen Gesellschaft.« Er nahm sie am Ellbogen und führte sie die StraÃe entlang zu einem Café. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, von wo aus sie das Treiben auf der StraÃe beobachten konnten. Bevor der Tee und das Buttergebäck gebracht wurden, hatte Alistair sie bereits mit seinen witzigen und teilweise zynischen Bemerkungen über die Passanten zum Lachen gebracht.
Als er sich anderthalb Stunden später vor der Tür von Miss Hemingways Akademie von ihr verabschiedete, blickte Etty ihrem neuen Leben schon viel gelassener entgegen. »Danke, Alistair. Ich bin sehr froh, dass du mein Freund bist.«
»Ich auch. Dann erst mal auf Wiedersehen. Wir sehen uns morgen in deiner Gesangsstunde.«
6
Z ur selben Zeit, als Meggan an Bord der River Maid ging, dem Raddampfer ihres Bruders Hal, um nach Langsdale zurückzufahren, waren Nelson und Darcy gerade dabei, die Zäune entlang der Westweide zu überprüfen. Der Mann, der für die Zäune in diesem Grenzabschnitt der Farm verantwortlich gewesen war, hatte sich vor einigen Monaten zu Tode gesoffen. Bisher hatte man noch keinen Ersatz für ihn gefunden. Nur wenigen behagte ein derart einsamer Job, denn üblicherweise hatte man dabei nur sein Pferd und seinen Hund als Gesellschaft. Meistens waren
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