Lied des Schicksals
Wahrheit immer wehtut?
»Ich bin nicht egoistisch«, sagte sie kleinlaut.
»Ach ja?« In dieser kurzen ÃuÃerung lag eine Menge Spott. »Du willst Ruhm und Reichtum, du willst nach England und Europa reisen, und trotzdem kannst du dir nicht vorstellen, dass andere ebenfalls ehrgeizig sind und Ziele haben.«
Da sie merkte, dass sie in dieser Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen würde, widmete sich Etty wieder ihrer Stute. »Ruan und Louisa haben jedenfalls keinen Ehrgeiz«, sagte sie trotzig. »Warum musst du denn da anders sein?«
»Vielleicht weil ich halt anders bin, so wie meine Mutter und Nelson anders sind. Was hätte es denn für einen Sinn, intelligent zu sein und eine gute Schulbildung zu haben, wenn ich beides nicht einsetzen kann?«
Etty hob kaum merklich die Schultern und zog die Mundwinkel herunter.
»Es hat keinen Sinn, mit dir zu reden«, rief Darcy wütend. »Du weigerst dich, die Dinge aus meiner Perspektive zu sehen.«
»Das tue ich nicht«, schrie Etty. »Ich verstehe bloà nicht, warum du meinst, dich beweisen zu müssen, indem du dich in die Welt der WeiÃen hineindrängst.«
Darcy erstarrte. »Die Welt der WeiÃen, ja?« Der Schmerz, der sein Gesicht verzerrte, traf sie mitten ins Herz. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich von dir solche Worte hören würde, Etty. Wir haben uns doch immer als gleich angesehen.«
»Ich hab das nicht so gemeint, Darcy.« Verzweifelt versuchte sie, ihre törichten Worte rückgängig zu machen. Mittlerweile machte Darcys Zorn ihr ein wenig Angst. »Wir sind immer noch gleich.«
Er lachte höhnisch. »Nein, das sind wir nicht. Jedenfalls nicht mehr. Das hast du sehr deutlich gemacht. Geh zurück nach Adelaide in deine schicke Schule für junge Damen, Etty. Such deinen Ruhm in den Opernhäusern der Welt. Mach mit deinem Leben, was du willst, und ich werde mit meinem ebenfalls machen, was ich will. Und das dämliche Lied, das du mir eines Abends vorgesungen hast, werden wir beide vergessen.«
Etty konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. »Ich habe diese Worte ehrlich gemeint. Und dir haben sie auch gefallen.«
»Wir hatten nur wenige Stunden zuvor dem Tod ein Schnippchen geschlagen.« Er fuhr mit einer Hand durch seine dicken schwarzen Locken, was ihn offenbar ein wenig besänftigte. »Wir müssen beide unseren eigenen Weg gehen, Etty«, sagte er dann mit ruhiger Stimme. »Ich wünschte nur, ich hätte deinen Segen.«
»Habe ich denn deinen?«
»Ja.«
»Dann wünsche ich auch dir alles Gute.«
»Danke, Etty.« Doch beide wussten, dass ihr Wunsch nur halbherzig war. »Unser Leben wird sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln, Etty. Wir müssen das Beste aus der Zeit machen, die du noch hier bist.«
»Ja«, stimmte sie mit leiser Stimme zu, »weil ich dich wieder fast ein Jahr nicht sehen werde.«
»Dann werden wir also nicht mehr über unsere Zukunft streiten?«
»Nein.«
Während der folgenden Wochen bemühten sich beide sehr, so zu tun, als wäre zwischen ihnen alles in Ordnung. Doch sie wussten beide, dass sich ihre Beziehung unwiderruflich verändert hatte. Als der Tag kam, an dem sie Abschied nehmen mussten, ahnte keiner von ihnen, dass das Schicksal und die äuÃeren Umstände sie viel länger als nur ein Jahr voneinander trennen würden.
Im September erklärte Madame Marietta, dass Etty nun bereit sei, die ersten Schritte auf dem Weg zu internationaler Anerkennung zu tun.
Nun, da ihr Traum kurz vor der Verwirklichung stand, vertraute Etty Madames Urteil über ihre Fähigkeiten nicht so recht und geriet, ungeachtet ihrer Prahlerei Louisa gegenüber, in Panik.
»Ich bin doch gerade erst siebzehn geworden, Madame. Ich bin noch so jung. Meine Stimme ist noch nicht voll entwickelt.«
Das war, wie sie sofort feststellen musste, nicht die richtige Ausrede gewesen. Madame baute sich entrüstet vor ihr auf und zog ihren Schal fest um ihre Schultern, als wolle sie sich vor einem so unverfrorenen Einwand schützen. »Du glaubst, junge Dame, dass ich, Madame Marietta, die in die groÃe Opernhäuser der Welt gesungen hat, nicht weiÃ, wovon sie spricht? Zu jung, sagst du? Willst du warten, bis du eine alte Frau bist, bis du die Frische von Jugend verloren hast?«
»N⦠nein, Madame.
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