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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Port-Royal zu besichtigen? Der junge Fahrradfahrer hatte keine Ahnung.
    Ich ging zum Taubenturm. Abgeschlossen. Ich legte mein Ohr an die Tür, an die Mauern. Stille. Die Tauben müssen es von Generation zu Generation weitergesagt haben. Vorsicht, ein gefährlicher Ort.
    Eine Kirche, lange nach 1712 erbaut, diente als Museum. Ich zog es vor, mich auf der Wiese umzusehen. Darunter hatten die Toten geruht.
    An jenem Tag schwiegen sie.
    Doch wer weiß das schon so genau bei Toten? Sie verständigen sich anders als mit Worten. Stieg ich nicht auf ihren stummen Ratschlag hin den Hügel hinauf bis nach Les Granges?
    Die Abtei, in der die untadeligen Nonnen einst lebten, lag in der Talsohle. Les Granges war, neben Weizenfeldern, auf dem Hochplateau erbaut worden.
    Les Granges war ein Zufluchtsort für Menschen, die von der Welt im Allgemeinen und von Versailles im Besonderen die Nase voll hatten. Im Gegensatz zu den Höflingen, die überaus gesellig lebten, nannte man sie die «Einsiedler». Blaise Pascal war einer von ihnen. Wenn er sich von seinen Berechnungen und seinen Gebeten erholen wollte, erfand er nützliche Gebrauchsgegenstände: Im Hof kann man eine solche Erfindung sehen, einen Brunnen und das Räderwerk, das er ersonnen hatte, damit man ohne Mühe Wasser schöpfen konnte.
    Les Granges war eine Schule, die Jean Racine besuchte und zu der er zurückkehrte, um zu Füßen des so verehrten Arztes Jean Hamon seine letzte Ruhe zu finden.
    Les Granges war eine Miniaturuniversität. Hier wurdenach Antworten auf auserlesene Fragen gesucht: Was heißt «erziehen»? Was ist das für eine Struktur, die die Wörter zusammenhält und die man allgemein «Grammatik» nennt?
    In den Gedanken des jungen Fahrradfahrers hatte die Geschichte des Königs, der gegen die Leichen kämpfte, so viel Platz eingenommen, dass ich damals nichts von diesen längst vergangenen Ereignissen ahnte. Aber der Ort schlug mich in seinen Bann, er hatte etwas Fesselndes, Forderndes. Der Fahrradfahrer fühlte, dass es hier mehr gab, als zu sehen war. Ungeachtet der steilen Hänge beschlossen der Junge und sein Fahrrad zurückzukehren.
    Er lernte, jeden der Einsiedler beim Namen zu nennen: Arnaud d’Andilly. Pierre Nicole. Isaac Le Maistre de Sacy. Er erfuhr, was jeder aufgegeben hatte, um sich hierhin zurückzuziehen.
    Er spazierte auf ihren Spuren durch den Park. Und er redete sich ein, er sei einer von ihnen, sagte sich immer wieder, ich bin ein Einsiedler, ganz klar, ich bin ein Einsiedler, und wenn ein Mädchen ihn abwies (was häufig vorkam), half ihm diese Gesellschaft von Einsiedlern, dieser Glaube, die Einsamkeit sei eine Ritterschaft.
    In der Bibliothek, zwischen alten Gelehrten, von denen die meisten Japaner waren, bereitete er sich auf sein Abitur vor. In der Bibliothek meinte er, er würde gleich sterben: Er war zu kräftig in die Pedale getreten, um hierherzukommen. Sein Herz hörte nicht auf zu pochen. In der Bibliothek lernte er eine ältere Dame kennen, eine Deutsche. Sie forschte über eine grammatikalische Sonderbarkeit, die vollendete Zukunft.
    Â«So jung, wie Sie sind, sagt Ihnen diese Zeit nichts.Aber Sie werden sehen, eines Tages wird sie Ihnen etwas sagen.»
    Was ist aus der deutschen Wissenschaftlerin geworden? Sie hatten sich geschrieben, er bekam geheimnisvolle Artikel zugeschickt. Dann wurde der Abstand zwischen den Briefen immer größer. So verliert man sich aus den Augen, hört nichts mehr voneinander, und die Erinnerung verblasst. Er ahnte nicht, dass die Stunde der vollendeten Zukunft bald schlagen würde. Wie die Gelehrte von der anderen Rheinseite es vorausgesagt hatte.

 
    Â 
    Wo?
    Wo hält sie sich auf?
    Der Bruder mit der einzigen Liebe hatte endlich die Verzweiflung seines großen Bruders begriffen.
    Er wusste, für einen Menschen, der am Boden ist, ist jeder heraufziehende Tag ein Berg, eine endlose Mauer. Daher half er ihm, so gut er konnte, bei der täglichen Kletterpartie: mit einem Buch oder einer CD, die er ihm am Morgen hinlegte; manchmal mit einem Musikstück am Telefon statt einer Nachricht; mit einer Einladung zum Abendessen mit einem seltenen Wein, den er bei einem Sommelier bestellt hatte, einem Corton-Charlemagne aus der Domaine de Montille, und einer Extraflasche, die er mir bei der Umarmung zum Abschied in die Hand drückte – «das wäre doch nicht nötig gewesen …»

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