Lied für eine geliebte Frau
dass es brausen, wüten, emporsteigen, sprühen, spritzen, sich mit dem Wind verbünden und grollen kann, soviel es will, es bleibt insgesamt an seinem Platz und überschwemmt nicht alles. Die Nacht, selbst die ruhigste aller Nächte, umhüllt und durchdringt einen. In der Nacht gibt es weder oben noch unten. Das Schiff, das auf der Nacht schwimmen kann, muss erst noch erfunden werden. Und es gibt keinen Hafen, in dem man vor der Nacht sicher ist.
Im Vergleich mit dem Meer hat die Nacht den Vorteil, dass sie vom Morgengrauen verjagt wird, während das Meer bleibt. Sobald es etwas heller wurde, sangen die Vögel ein Lied, das ich nicht kannte, die Melodie war etwas unordentlich, hörte sich aber fröhlich an.
Ich kann meinen Blick nicht von meinen beiden Kindern losreiÃen, meinen Schutzengeln, die auf ihren Luftmatratzen ausgestreckt schlafen. Meine Tochter auf dem Rücken, zuversichtlich, mit leicht geöffnetem Mund. Sie sieht aus, als lächele sie. Mein Sohn dagegen rollt sich ein wie ein riesiger Fötus, ein Kerl von einem Meter dreiundachtzig, der sich mit Bedauern an die süÃe Zeit im Mutterleib erinnert.
Sie sind spät aufgestanden. Teenager nerven Erwachsene immer damit, dass sie viel zu spät aufstehen.
«Hast du â¦Â»
«⦠schlafen können, Papa?»
«Jedenfalls hast du â¦Â»
«⦠geschnarcht.»
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Es war einmal ein König, den Leichen störten.
Dabei war dieser König allmächtig, herrschte über die reichste Nation Europas, wohnte im luxuriösesten aller Paläste, umgeben von den leidenschaftlichsten Höflingen, die die Welt je gesehen hatte, Männern ebenso wie Frauen (die zweifellos in der Mehrzahl waren).
Doch nichts konnte Ihn ablenken. Weder der Ruhm des Heeres noch der Trost der Religion. Nicht die Musik von Lully und auch nicht der Duft der Blumenbeete, die ihm zuliebe jede Nacht aufgefrischt wurden. Er dachte immer nur an diese Leichen.
Obwohl die Leichen, die den König störten, schwiegen wie alle Leichen. Doch ihr Schweigen war schlimmer als ein Vorwurf, schlimmer als jeder Tadel: Es war der Ausdruck von Gleichgültigkeit.
Zum gröÃten Teil waren es Frauenleichen, Leichen von untadeligen Nonnen. Ihr ganzes Leben hatten sie sich nur für die Gnade interessiert, die göttliche Gnade. Den ganzen Tag und die halbe Nacht hatten sie diese unlösbare Frage diskutiert. Es gab keinen Grund, warum sie ihre Gespräche nach dem Tod nicht fortsetzen sollten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass sie sich bei dieser Beschäftigung über die Versailler Prachtentfaltung lustig machten und ebenso über die Liebedienerei, die solche Prachtentfaltung immer mit sich bringt. Schlimmer noch: Sie waren Demokraten. Sie wählten ihre Oberin, in vollkommener Unabhängigkeit. Dieses Benehmen empörte den König, selbst bei Leichen.
Eines Tages hielt Er es nicht mehr aus. Mitte Januar 1712 sandte er eine Armee ins Vallée de Chevreuse, um sich dieser unverschämten Leichen zu entledigen.
Die Soldaten öffneten die Gräber, unter Mühen, denn es war kalt. Sie brachen die Särge auf, sie luden die Knochen auf Karren, auch die Fetzen verwester Körper, die Ãberreste der jüngst Verstorbenen. Und in der Stille des Winters bewegte sich der Zug, begleitet von Hunden, zum Friedhof des nahegelegenen Dorfs Saint-Lambert, wo ein groÃes Loch auf sie wartete: das Massengrab.
Nachdem das groÃe Loch zugeschüttet worden war, teilte man dem König mit, Sein Wille sei ausgeführt worden.
Damit war er zufrieden.
Nicht lange.
Drei Jahre später starb Er.
Diese Geschichte vom Krieg eines Sonnenkönigs gegen die Leichen hatte mich nach Port-Royal des Champs gelockt. Ich wollte den Ort sehen, die Ohren spitzen. Damals war ich fünfzehn. Ich war mit dem Fahrrad gekommen.
Nichts hätte ruhiger sein können als das kleine Tal. Der Wind, der dort wehte, war nicht stark genug, um das Schilf zu beugen. Ich näherte mich dem Ort unter alten Eichen, die zweifellos alt genug waren, um die berühmten Leichen noch zu ihren Lebzeiten gekannt zu haben.
In einem Haus verkaufte eine Frau Eintrittskarten. Als sie den jungen Radfahrer von Weitem erblickte, zögerte sie, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Welche Ãberraschung, ein Franzose! Welche Schande, sonstkommen nur Japaner hierher! Was meinen Sie, weshalb kommen sie von so weit her, um
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