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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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Weges?»
    «Ich fahre ins Konservatorium, und Sie, Alexandra Alexejewna? Warum fahren Sie denn mit der Pferdebahn, Sie haben doch Ihre eigenen Pferde.»
    «Bisweilen gefällt es mir.»
    «Und wohin fahren Sie?»
    «Ich bin auf dem Weg zu Kurlinski, er ist im Militärhospital. Sie haben wohl gehört, dass er den Militärdienst verweigert hat?»
    «Ja. Ein seltsamer Kauz! Aber dies ist doch nicht der Weg dorthin. Es ist die ganz andere Richtung.»
    Sascha wurde verlegen und antwortete:«Ach, was bin ich doch zerstreut», verabschiedete sich von Zwetkow, sprang von der Bahn und machte sich auf den Weg zu der Straße, in der Iwan Iljitsch wohnte. Der Wunsch, ihn zu sehen, zerriss ihr Herz. In der Nähe seines Hauses blieb sie an einem Tor stehen. Ein Wasserführer, der schreckliche Anstrengungen unternahm, ein Fass mit Wasser in den Hof zu befördern, versperrte ihr den Durchgang. Eine kleine Erhebung des Trottoirs vor dem Tor vereitelte sein Vorhaben, das Fass rollte immer wieder zurück.
    Schwungvoll stemmte Sascha ihre Arme gegen das Fass und half dem Wasserführer.«Auf, auf, zusammen», sagte sie mit weicher, unverzagter Stimme.
    Augenblicklich rollte das Fass in den Hof, und der verblüffte Wasserführer, die schmunzelnden Passanten, der Hausknecht – alle betrachteten voller Neugier die gutgekleidete junge Dame, die ruhig einige Locken ihrer dunkelblonden Haare, welche unter dem Hut hervorgeglitten waren, in Ordnung brachte und ein Lächeln zeigte, das ihr ganzes Antlitz leuchten machte, indem es in ihren arglosen, großen, schwarzen Augen einen zärtlichen, liebreichen Glanz entzündete.«Man muss mich doch einfach gernhaben», sagten ihre Augen,«ich habe euch doch auch alle gern…»
    Und ein jeder spürte dies und war sogleich bereit, Sascha gernzuhaben.
    «Ja, was machen Sie denn hier?», fragte eine bekannte Stimme, die Saschas Herz sogleich stillstehen ließ.
    «Sie haben es gesehen?»
    «Habe ich. Sie wollen, so scheint es, unter die Wasserführer gehen?», fragte Iwan Iljitsch spöttisch.«Musizieren können Sie dann aber nicht mehr, Sie machen sich die Hände kaputt und brechen sich die Finger.»
    Sascha schwieg, stimmlos von der Anstrengung und der Aufregung.
    «Lassen Sie uns gehen», sagte sie leise.«Was denken Sie denn von mir, dass ich von Sinnen bin?»
    «Ich denke, dass Ihrem Charakter zahlreiche Widersprüche eigen sind, zahlreiche Gegensätze. Sie sind wie ein Bild von Rembrandt: viel Schatten, aber auch viel Licht.»
    «Und ein Fass zu transportieren – ist das Licht oder Schatten?», sagte Sascha schelmisch lächelnd und den Tonfall Iwan Iljitschs aufnehmend.
    «Licht.»
    «Und was ist Schatten?»
    «Schatten ist die Unbeständigkeit, die Unbedachtheit, das vorschnelle Urteilen und die unlogischen Schlussfolgerungen, die Unfähigkeit zur Konzentration…»
    «Aber! Es ist also viel Schatten, und ich muss Sie bitten, mich zu erleuchten.»
    «Das kann ich nicht, Alexandra Alexejewna, und ich habe auch gar keine Zeit, ich bin zu bequem.»
    Sascha errötete. Iwan Iljitsch blickte sie an, blinzelte, wandte sich schnell ab und beschleunigte seinen Schritt. Seine Beunruhigung, sein Verlangen, Sascha irgendwie zu verdrießen, und zugleich das fast zärtliche Mitgefühl, das er für sie empfand, nachdem er ihr weh getan hatte, verwirrten ihn.
    «Wohin gehen wir?», fragte Sascha plötzlich furchtsam.
    «Ich bin auf dem Weg zu meinen Bekannten, um in Erfahrung zu bringen, wann sie mein Quartett spielen werden. Wohin Sie allerdings gehen – das weiß ich ganz und gar nicht; Sie wissen es, wie es scheint, ja selbst nicht einmal. »
    «Doch, ich weiß es sehr wohl, ich bin auf dem Weg ins Militärhospital zu Kurlinski und nehme jetzt einen Wagen…»
    Just in diesem Augenblick versuchte eine Schwangere mit einem bereits ziemlich großen Mädchen auf dem Arm die belebte Straße zu überqueren, auf der, ohne anzuhalten, Equipagen, Wagen und die Pferdebahn dahinrollten. Das Mädchen wehrte sich ungestüm und trat der Mutter mit seinen Beinchen gegen den Bauch. Ohne auch nur eine Minute nachzudenken, nahm Sascha das Mädchen bei der Hand, sagte:«Meine Kleine, weine nicht, deine Mutter kommt uns nach»und lief mit ihm leichtfüßig auf die andere Straßenseite. Das Kind ließ sich von Sascha ablenken, die mit ihr wie im Spiel vor der Mutter fortlief, gab sogleich Ruhe und begann zu lachen.
    «Jetzt sind Sie auch noch unter die Kindermädchen gegangen», rief Iwan Iljitsch ihr nach. Doch Sascha kehrte nicht

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