Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
was haben wir weiter: Wegen Sem. Iw. im Armenhaus anfragen. Auswendig lernen: Nr. 9 Allegro assai Chopin-Etüde. Papier, Umschläge, Gummiarabikum, eine Spule rosa Seide», las Iwan Iljitsch in schnellem Tempo.«Mein Gott, welche Mannigfaltigkeit, warten Sie, hier ist noch etwas von Cicero: ‹An das Vorhandene soll man sich halten und alles, was man tut, nach Maßgabe seiner Kräfte tun.› 41 Das ist die Regel der Weisheit. – Das ist gut, dass Sie sich das notiert haben, Alexandra Alexejewna, Sie verausgaben sich stets allzu sehr, lassen sich aufwühlen und verschwenden so allzu viel Kraft.»
«Deshalb bemühe ich mich auch beharrlich um Weisheit. Im Übrigen habe ich kürzlich gelesen, dass geistige Erregung die Quelle der Lebenskraft sei, und dass sie unerlässlich sei für die Regsamkeit von Körper und Geist.»
Iwan Iljitsch legte das Buch wieder hin und warf dabei ein Knäuel Seide vom Tisch. Das Knäuel rollte hinter den Wandschirm, unter das Bett, und sosehr Sascha auch an dem langen roten Faden zog, sie konnte das Knäuel nicht wieder zum Vorschein bringen.
«Aljoscha, Aljoscha, komm doch einmal her.»
«Bekümmern Sie sich nicht, Alexandra Alexejewna, ich hebe es auf.»
«Aber nein, warum denn», antwortete Sascha, bestürzt darüber, dass Iwan Iljitsch hinter dem Wandschirm ihr Bett sehen würde.
Aber Iwan Iljitsch bedachte dies überhaupt nicht, er beugte sich ungeschickt hinunter, holte das rote Knäuel hervor, und unvermittelt fiel sein Blick, nun auch bestürzt, auf Saschas mit luftig-leichter Spitze bedecktes, weißes Bett, auf ihren Waschtisch, den eleganten Toilettentisch, alles so makellos und anziehend. Seit früher Jugend hatten die Augen des Junggesellen Iwan Iljitsch keinen solch reinen weiblichen Winkel mehr erschaut, jenes Ewig-Weibliche 42 , die zarten, betörenden Geheimnisse des weiblichen Privatlebens. Er runzelte die Stirn, sein Ausdruck wurde streng, und etwas in seinem Innern verschloss sich.
Sascha erhob sich verlegen, nahm das Knäuel, dankte Iwan Iljitsch und bat ihn zum Tee ins Esszimmer. Als sie am Salon vorbeigingen, in dem der Flügel stand, hielt Sascha inne und fragte unsicher:«Würden Sie etwas spielen?»
«Ich habe lange nicht gespielt, ich bin ganz aus der Übung», entgegnete Iwan Iljitsch schroff.
«Bitte, nur ein wenig», bat Sascha leise; ihre kindlichen, ernsthaften Augen blitzten, ihr Gesicht erglühte, sie krampfte die Hände zusammen, drückte sie an die Brust, als wollte sie etwas darin zurückhalten, und ließ sich in der Ecke des Salons nieder.
Iwan Iljitsch trat zum Klavier, schlug die ersten Akkorde an, und plötzlich spürte Sascha, dass sie verloren war. Das«Lied ohne Worte»in G-Dur, das sie seit jenem Maiabend nicht mehr gehört hatte, erklang unter Iwan Iljitschs Händen ausdruckvoller, zärtlicher als je zuvor. Sascha hielt, die Hände noch fester zusammengepresst, mühsam die Tränen zurück. Plötzlich begriff sie, dass jene Klänge, die ihr einst Ruhe und Glück gegeben hatten, nun Furcht und unnatürliche, quälende Erregung in ihr weckten. Unwiderstehlich wurde sie zu jenem Mann hingezogen, der durch die Musik Besitz von ihr ergriffen hatte – die Kunst war aus dem Bereich des Abstrakten hinausgetreten und zu einem irdischen Gefühl geworden. Sie hatte ihre Reinheit und Unbeflecktheit verloren.
Alles war zu Ende! Alle Mühen, die Musik von den menschlichen Leidenschaften zu trennen, ihr Ringen um Gelassenheit – all dies war vergeblich gewesen. Dieser Abend sollte Saschas gesamtes Wesen verändern.
Iwan Iljitsch spielte noch einige Variationen auf eine Mozart-Sonate, dann kam Pjotr Afanassjewitsch, und man nahm gemeinsam den Abendtee. Aber Sascha war, als der Abend zur Neige ging, ganz und gar abwesend: Sie sprach nicht, war ernsthaft, geradezu finster.
Selbst Iwan Iljitsch schien es, während er zu Fuß nach Hause ging, als sei sein Lebensrhythmus ein wenig durcheinandergeraten. Dieser Abend mit Sascha hatte ihn berührt, aber er war lediglich eine kurze Episode, die sich nicht auf seinen Beruf, seinen regelmäßigen Tagesablauf oder seine Gewohnheiten auswirkte – für Sascha indes war dieser Abend eine ganze Epoche.
VII
Sie ergibt sich
Als Iwan Iljitsch sich verabschiedete, begleitete Sascha ihn nicht einmal zur Tür, wie sie es gewöhnlich zu tun pflegte. Mit einem Knie auf den Diwan gestützt, auf dem er eben noch gesessen hatte, den tränenleeren, ernsten Blick auf die Wand gerichtet, verharrte sie lange
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