Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
regungslos. Der gestrenge Ausdruck ihres Gesichts war furchterregend. Es war, als ob sie ohne inneren Kampf, ohne Zaudern einen wichtigen, bedeutungsvollen Entschluss fasste. Was ihr vor noch nicht allzu langer Zeit so fern, so unmöglich, so sündhaft und schrecklich erschienen war, stand plötzlich außerhalb jeglichen Zweifels, war bereits unwiderruflich Wirklichkeit geworden. Dieser allem Anschein nach ruhige, leidenschaftslose Mensch, der ihr und ihren unerwarteten Gefühlsausbrüchen derart ironisch gegenüberstand, dieser geniale Musiker, der ihr fremd war und sie befremdete, schien ihr plötzlich teuer, unentbehrlich – nein, mehr noch, er war Mittelpunkt ihres Lebens geworden, er allein bedeutete die ganze Welt, er war für sie – alles.
«Was aber ist mit der Musik? Ich fühlte mich ihm doch nur zugeneigt, da er mir Trost schenkte und künstlerischen Hochgenuss, mir so viele unschätzbare musikalische Werke nahebrachte und mich ins Leben zurückrief, und ich ganz erfüllt war von jener Kunst, der Musik, die höher ist als alle Künste der Welt. Hat dieser ruhige Iwan Iljitsch, der so gern Weintrauben und Feigen isst, mit seinen blinzelnden Augen und seinem ständigen Blick auf die Uhr – hat er denn tatsächlich einen Platz eingenommen, der über die Musik hinausgeht?»
Wie die Vestalin im Altertum, die ihr Leben verlor, wenn sie sich in einen Sterblichen verliebte, 43 so verlor auch Sascha ihr lauteres Leben, ihre Reinheit, ihre makellose Hinneigung zur Kunst, als sie den Menschen Iwan Iljitsch zu lieben begann.
Sascha war keine Frau, die bereit war, Kompromisse einzugehen, sich selbst oder anderen etwas vorzumachen oder gar sich zu rechtfertigen. Sie ergab sich, schlicht und einfach, und streckte die Waffen, wenngleich sie sich dabei auch quälte. Sie wusste, dass vom heutigen Tag an jeglicher Kampf vollkommen vergeblich war und dass sie sich nicht mehr wehren wollte. Und wäre ihre Liebe auch töricht, schlecht und frevelhaft, und mochte auch die ganze Welt auf sie zeigen und über sie lachen, und mochte ihr Ehemann auch klagen – all dies schien ihr bedeutungslos angesichts der unnatürlichen, überwältigenden Macht ihrer Leidenschaft.
Ihre Liebe zu Iwan Iljitsch wurde übergroß, und mit der ihr eigenen Empfindsamkeit gab sie sich ihr ganz hin. Doch wann hatte dies angefangen? … Jenen Augenblick zu bestimmen, in dem die wahre Liebe entfacht wurde, ist unmöglich. Heute sah man sich, traf sich morgen freudig wieder, eine Woche später verzehrte man sich ohne den geliebten Menschen, einen Monat später verbrachte man einen wunderbaren Abend, an dem man sich so gut unterhielt… Und noch einige Monate später gab es kein Leben, kein Glück mehr ohne ihn…
Hätte Sascha versucht, ihrem Gefühl ernsthaft nachzuspüren, so hätte sie sich erinnert, dass es wie ein Gift an jenem Abend in ihr Herz eingedrungen war, als in der stillen Mainacht aus dem gelben Sommerhaus die Melodie des«Liedes ohne Worte»erklang.
Doch Liebe zu Iwan Iljitsch war dies noch nicht. Die Musik hatte eine Sehnsucht nach Liebe geweckt, und die Musik hatte Sascha als Erstes zu lieben begonnen. Den, der sie ins Leben gerufen hatte, kannte sie ja noch nicht, hatte ihn noch nicht einmal gesehen. Viel später erst, als sie mit dem begabten Musiker näher bekannt geworden war, hatte sich in ihn verliebt. Die wahre, gute, starke Liebe entspringt stets einer Sphäre des Nichtdinggebundenen; erst später geht sie über in Leidenschaft.
Trug sie also Schuld? Hatte nicht Schicksal, blinde Fügung sie zu ihrer Liebe geführt, die so schonungslos sie sich nun eingestand?
In der nächsten Minute versetzte sie die Erkenntnis, dass sie verloren sei, in rasende Verzweiflung. Sie eilte, sich anzukleiden, warf eine warme Jacke über und lief, wie von einer fremden Macht gelenkt, zur Tür, um Iwan Iljitsch zu folgen.
Die Njanja rief, um ihr zu sagen, dass Aljoscha Fieber habe.
«Aljoscha? Was ist?»
Sie begriff zunächst nicht, aber als sie begriff, wurde ihr schrecklich zumute, sie warf den Mantel ab und lief ins Kinderzimmer. Voller Reue legte sie die Lippen auf die Stirn ihres schlafenden Sohnes und setzte sich schweigend an sein Bett.«Dies also ist die Vergeltung für meine Sünde», dachte Sascha.
Die ganze Nacht über saß sie bei ihrem Jungen. Pjotr Afanassjewitsch kam in Hausschuhen und Schlafrock einige Male leise ins Kinderzimmer und bat Sascha, sich ein wenig auszuruhen, doch ihr graute davor, sich ins Schlafzimmer zu
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