Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
begeben, als hätte sie ihren Mann durch ihre frevelhaften Gefühle bereits betrogen.
Gegen Morgen begann Aljoscha zu schwitzen, und Sascha beruhigte sich. Trotzdem legte sie sich nicht mehr schlafen. Die kurze Krankheit ihres Kindes hatte sie vorübergehend von jenen brennenden Seelenqualen abgelenkt, die sie empfand, seit sie sich ihre Liebe zu Iwan Iljitsch eingestanden hatte.
Als Aljoscha schließlich frisch und munter erwachte und sich seine Krankheit als eine belanglose Magenverstimmung herausstellte, wandte sich Saschas Herz erneut mit furchtbarer Macht ihrer wahnsinnigen Liebe zu. Zu Hause fand sie keine Ruhe, vermochte sich nicht zu beschäftigen, und nachdem sie Aljoscha eine Bouillon mit Ei zu essen gegeben hatte, kleidete sie sich an, ohne selbst zu wissen, wohin sie gehen wollte. Doch erneut wurde sie gestört. Jemand klingelte; es wurde gemeldet, eine Dame wünsche sie auf eine Minute zu sprechen.
«Bitte sie herein», sagte Sascha unzufrieden.«Wer kann das denn so früh sein?»
Eine ältere Dame in altmodischem Kleid trat ein, scheu, still und traurig.
«Eine Bittstellerin», dachte Sascha. Doch dann erkannte sie Nastasja Nikititschna und eilte zu ihr, um sie zu küssen.
«Saschenka, Liebe, grüß dich», sagte die Dame,«du hast vielleicht gehört, dass mein Sohn den Militärdienst verweigert und man ihn ins Hospital eingewiesen hat. Und du kennst sicher den weiteren Verlauf derartiger Geschichten. Sascha, du musst mir helfen, dass er entlassen wird!»Ihre Stimme versagte.«Er hat dich gern, auf dich wird er hören.»
«Ich täte gern etwas, meine Liebe… Er tut mir ja auch ganz furchtbar leid… Doch wie kann man ihm denn helfen?»
«Fahre einfach nur hin, dich wird man zu ihm lassen, rede ihm zu.»
«Werden Sie lange hierbleiben?»
«Ich weiß nicht, ich kann nicht zurückfahren, doch hierzubleiben, in einem möblierten Zimmer, ist teuer und niederdrückend.»
«Aber, aber, so wohnen Sie doch bei uns! Und ich werde heute noch zu ihm fahren, aber ob ich etwas erreichen werde?»
«Da sind die Kinder groß, und man glaubt, damit hörten die Sorgen auf, und doch bringen einen die großen ebenso wie die kleinen Kinder um den Schlaf…»
Nastasja Nikititschna brach in Tränen aus.
«Aber, aber, meine Liebe, weinen Sie doch nicht, wir werden ihn, so Gott will, zur Vernunft bringen, meine Beste, so hören Sie doch auf zu weinen.»
Sascha nahm Nastasja Nikititschna in den Arm und tröstete sie, und als dies erreicht war, hörte sie die ganze Geschichte der Familie Kurlinski an, die, wie alle Familiengeschichten, überaus anrührend und fesselnd war. Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, verließen sie zusammen das Haus. Nastasja Nikititschna nahm einen Wagen und fuhr zu ihrem möblierten Zimmer, während Sascha zu Fuß ging, um ihre aufs äußerste angespannten Nerven zu beruhigen.
VIII
Auf der Straße
Es war klar und recht kalt; der über Nacht gefallene Schnee hatte die Straßen und Dächer gepudert, und Moskaus Gärten und Boulevards strahlten hell und weiß. Über die kalten Gleise kreischte, an den Kreuzungen klingelnd, die Pferdebahn. Sascha sprang bei voller Fahrt auf einen Wagen auf und blieb bis zur Endstation auf der Plattform stehen. Dort stieg sie aus und wartete auf die nächste Bahn, die den Weg zurückfuhr.«Ich scheine den Verstand zu verlieren», schnellte ihr durch den Sinn. Die Pferdebahn kam, Sascha stieg ein und setzte sich. An der nächsten Station stieg eilig eine Frau mit einem Kind ein, dem ein Auge verbunden war, und suchte einen Platz. Sascha bot ihr den ihren an, denn sie empfand Mitleid mit dem kranken Knaben, und trat erneut auf die Plattform, von wo aus sie die Passagiere beobachtete, deren Stand und Charakter sie zu bestimmen suchte. Besonders augenfällig zeigte sich Anstand oder Flegelhaftigkeit der Menschen, wenn der Kontrolleur nach dem Billett fragte. Die einen zerknitterten den Fahrschein absichtlich und reichten ihn voller Unmut dem Kontrolleur. Die anderen strichen ihn beflissen glatt und warteten in aller Ruhe, bis nach ihm gefragt wurde. Wieder andere suchten verlegen und hastig ihr Billett in Taschen und Handschuhen. Als Sascha auf der Plattform ihr Billett dem Kontrolleur reichte, grüßte fröhlich ein junger Mann und bot ihr seinen Platz an.
«Zwetkow, mein Lieber, Sie sind es!», sprach Sascha den Schüler Iwan Iljitschs an, und plötzlich lebte der ganze Sommer in ihrer Erinnerung auf, und sie wurde furchtbar aufgeregt.«Wohin des
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