Lied ohne Worte: Roman (German Edition)
Saschas bewegtes und beherztes Antlitz, und, da zu gehen sie sich anschickte, küsste er ihre Hand und fügte hinzu:«Sie haben mich mit Ihrem Besuch sehr glücklich gemacht, ich danke Ihnen.»
Zum Abschied sagte Sascha noch einige anrührende Worte über Kurlinskis Mutter und ihre Tränen, dann ging sie durch die vor ihr sich öffnenden und hinter ihr sich wieder schließenden Türen hinaus.
«Gibt es hier auch Gesunde?», fragte sie den Soldaten, der sie begleitete.
«Sehr wohl», antwortete er.
«Sind denn wirklich alle hier durch die militärische Disziplin derart eingeschüchtert und durch die Angst so stumpf geworden, dass sie nicht einmal sprechen können und wollen?», fragte Sascha sich, und immerfort hörte sie:«Sehr wohl, sehr wohl.»
Niedergeschlagen nahm Sascha wieder im Wagen Platz. Ihre Nerven waren aufs äußerste angespannt, ihre Seele war untröstlich, und immerfort hörte sie das Schließen der Schlösser und das«Sehr wohl, sehr wohl.»
Der Fuhrmann riss plötzlich das Pferd herum, und Sascha kam zu sich. Die Straße war aufgerissen, ein Wasserrohr wurde geflickt. Haufen von Erde waren um ein tiefes Loch aufgeworfen, in dem ein Mann arbeitete. Und Sascha dachte, dass durch die Öffnung dieses Loches die feuchte Muttererde zumindest einen Augenblick lang atmen konnte, die gewöhnlich von Steinen und Asphalt eingeschlossen und so der Möglichkeit enthoben war, Pflanzen und Bäumen Leben zu schenken. Welche Pein die Stadterde zu ertragen hatte! Ein tiefes Seufzen entrang sich Saschas Brust. Sie beseufzte ihre von Leidenschaft niedergedrückte Seele, den Fuhrmann, niedergedrückt von der Not und verbittert durch das rauhe, unfreie Leben Moskaus, den Soldaten, niedergedrückt von der Disziplin, und die von Steinen und Asphalt erstickte Erde. Ihre Seele, die voller Lebenskraft war und keine Fesseln ertrug, verlangte nach Freiheit, Leben, Luft und Glück…
X
Der Gatte
Als Sascha nach Hause kam, ging sie ins Kinderzimmer zu Aljoscha, der gerade ein Kartenhaus baute. Sie verspürte plötzlich den Wunsch, sich mehr um ihren Sohn zu kümmern, und nahm das Märchenbuch der Brüder Grimm, um ihm vorzulesen. Der Knabe freute sich, dass die Mutter Zeit für ihn hatte, doch ihre Aufmerksamkeit war nur von kurzer Dauer. Eine unerträgliche Schwermut lastete auf Saschas Seele. Sie hörte bald auf zu lesen und ging in den Saal, in dem der Flügel stand. Aljoscha rannte ihr nach, sie aber schickte ihn zum Spazierengehen nach draußen, holte die Noten der Beethoven-Sonaten hervor und begann eine zu spielen, die sie besonders liebte.
Ihr Spiel war nicht Musik, sondern ein einziges leidvolles Stöhnen. Sascha war nicht imstande, die Sonate zu Ende zu bringen. Bleiern lagen ihre Hände auf der Tastatur; sie ließ ihren Kopf darauf niedersinken und weinte bitterlich.
«Sascha!», hörte sie plötzlich das verzweifelte Flüstern ihres Mannes unmittelbar an ihrem Ohr.«Sascha, beste Freundin, was ist dir?»
«Es ist nichts, nichts, meine Nerven sind nur ein wenig angespannt», antwortete Sascha rasch, während sie sich die Augen trocknete und von ihrem Mann abrückte.«Ich war im Militärhospital, und mir tut es um Kurlinski so weh.»
«Nein, Sascha, das ist es nicht… Du hast gerade diese Sonate gespielt, die du so sehr liebst…», sprach Pjotr Afanassjewitsch stockend, scheu und traurig.«Du liebst Iwan Iljitsch.»
«Das ist nicht wahr, ist nicht wahr. Ich liebe ihn nicht!», schrie Sascha verzweifelt auf und hob die Hände, als ob sie sich vor etwas zu schützen suchte.«Ich liebe die Musik, ich liebe diese wundervolle Sonate und nichts weiter…»
Ihre Stimme brach, und still und demütig legte sie die Hände in den Schoß.
Ihr Gatte begriff plötzlich alles; heftige Erschütterung überkam ihn; sein Gesicht war bleich wie von einer grauen Kalkschicht überzogen. Lange betrachtete er aufmerksam das erstarrte Antlitz seiner Frau, dann brach er unvermittelt in Tränen aus.
Wenn eine Frau weint, so empfindet man Mitleid, besonders, wenn sie schön und liebenswert ist; wenn aber ein Mann weint, so ist das furchterregend.
Pjotr Afanassjewitsch weinte so, als ob ihm unerwartet und auf immer alles, wofür er lebte, genommen wäre. Er hatte niemals zuvor Eifersucht empfunden, er kannte dieses Gefühl nicht einmal. Zärtlich, gütig und voll kindlichem Vertrauen hatte er sein Leben lang Sascha allein geliebt; niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, dass einer von ihnen jemand anderen zu lieben
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