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Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Lied ohne Worte: Roman (German Edition)

Titel: Lied ohne Worte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja
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mehr zu ihm zurück, sie übergab das Kind der Mutter und nahm einen Wagen, um ins Hospital zu fahren.
    Unwillkürlich drängte es Iwan Iljitsch, ihr zu folgen, doch er gebot sich Einhalt. Ein mürrischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er ärgerte sich über sich selbst und über Sascha, darüber, dass ihr Verschwinden nicht zum ersten Mal in ihm den Wunsch geweckt hatte, ihr nachzueilen, sich nicht von ihr zu trennen, in ihre arglosen, ernsthaften Augen zu blicken, in denen sich stets so unerwartet dunkle Leidenschaft, zärtliche Herzlichkeit oder kindliche Fröhlichkeit zeigten.
    «Welche Unbefangenheit», dachte Iwan Iljitsch bei der Erinnerung an Sascha plötzlich ganz gerührt,«und welche Kraft, Klarheit und Schlichtheit!»

IX
     
    Das Militärhospital
     
    Mit dem Kutscher hatte Sascha Pech. Er führte seinen Wagen zwar ruhig, doch schwatzte er gern. Er erzählte Sascha, dass sein Bruder in seinem Dorf ganz allein dastehe, da er eine Frau aus einem anderen Dorf geheiratet habe, die alle aus dem Haus gejagt habe.
    «Das ist eine Hexe, keine Frau. Den ganzen Winter über kutschiere ich, im Frühling fahre ich hin, um dort auf dem Feld zu arbeiten. In diesem Jahr haben wir von einer Grundbesitzerin Land gepachtet, das ist jetzt leichter, vorher mussten wir immer Brot kaufen.»
    «Woher bist du?»
    «Ich bin aus Kaluga. Im letzten Jahr hatten wir eine solche Hungersnot, dass wir das Stroh von den Dächern ans Vieh verfüttert haben, und trotzdem ist es uns fast krepiert, mit Seilen mussten wir die Tiere zum Stehen bringen. Voran jetzt!», rief er dem Pferd zu und riss an den Zügeln.
    Sascha hörte dem Fuhrmann zu, und es rührte sie an, dass dieser Bauer, der ganze Winter lang allein in der Stadt verbrachte, weder mit seinem Geist noch mit seiner Seele in Moskau lebte. Sein ganzes Interesse galt seiner Familie, seinem Dorf, jenem redlichen, gehaltvollen, einfachen Leben dort, das ihn, ungeachtet aller Härte und Entbehrungen, nicht losließ.
    Endlich war das rote Gebäude mit dem Wachposten vor dem Tor zu sehen. Das Militärhospital. Sascha fühlte sich ein wenig unbehaglich: Sie war noch so jung, dass sie den Anblick von Kranken, Irrsinnigen, Arretierten fürchtete; dazu war sie nach der schlaflosen Nacht und der Aufregung, die sie durchlebt hatte, überreizt. Alles hier schien ihr fremd, unheimlich, unbegreiflich.
    Der wachhabende Soldat fragte sie, zu wem sie wolle; gegen einen Obolus für Tee ließ er sie durch das Tor und zog an einer Klingelschnur. Einige Minuten später steckte jemand den Schlüssel ins Schloss und sperrte die Nebenpforte auf. In Begleitung eines anderen Soldaten trat Sascha durch die hohe, schwere Tür, die in einen mit Bäumen bepflanzten Hof führte, und die Tür wurde hinter ihr umgehend wieder verschlossen.
    «Ist dies hier etwa der Ort, an dem die Kranken ihren Ausgang haben?», fragte sie.
    «Sehr wohl», antwortete der Soldat mit fremdländischem Zungenschlag und führte Sascha zur Tür des großen roten Gebäudes. Wieder drehte der Schlüssel sich um, die schwere Tür öffnete sich, und sie traten in eine dunkle Vorhalle.
    «Sie schließen aber fest zu», bemerkte Sascha mit einem Lächeln, von dem Eindruck der sich hinter ihr verschließenden Türen unangenehm berührt.
    «Sehr wohl», antwortete wiederum der Soldat, dümmlich lächelnd.
    Sascha legte in der Vorhalle ab und stieg die Treppe hinauf. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, waren einige Personen in grauer Leinenkluft, die der Treppe gegenüber stumpfsinnig auf Bänken saßen, die an den Wänden aufgestellt waren. Neugierig blickten sie die ihrem Empfinden nach ungewöhnlich gekleidete junge Dame an. Es waren ihrer sechs. Sie saßen dort unbewegt, beschäftigungslos, allein um der Enge ihrer Stube zu entfliehen, derer sie bereits überdrüssig waren.
    Ein kecker Soldat, offensichtlich ein wenig zivilisierter als jene, welche die Türen geöffnet hatten, trat zu Sascha, und nachdem er mit der Antwort auf seine Frage, wen sie zu sehen wünsche, einige Silbermünzen erhalten hatte, brachte er sie dienstbereit zu einer kleinen, hohen Tür, die ebenfalls verschlossen war.
    Kurlinski saß am Fenster. Er erhob sich, als Sascha eintrat, und ging ihr, in klobigen Hospitalsschuhen, schlurfend entgegen. Er war in einen sehr weiten, augenscheinlich viel zu großen grauen Kittel aus Soldatenrockleinen gekleidet, den er ungeschickt zusammenzuschlagen versuchte, wobei er verlegen errötete. Sein Gesicht war bleich und mager; bisweilen

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