Liegen lernen
Zeit und lächelte, und manchmal lief ihr Spucke aus dem Mund. Dann ging jemand hin und wischte ihr den Mund ab. Ich mußte ihr die Hand geben. Die Hand fühlte sich an wie Papier, nur etwas wärmer und feuchter. Wir saßen herum und tranken Kaffee, und alle unterhielten sich, und Tante Anni lächelte und nickte.
Danach fuhren wir zu Onkel Karl. Onkel Karl war in Ordnung. Er konnte nicht stillsitzen, stand ständig auf und sah aus dem Fenster oder befingerte eine der Porzellanfiguren, die auf seinem Schrank standen. Er hatte ein ziemlich schönes Zimmer in einem teuren Altenheim. Wir mußten mit ihm Spazierengehen, und er erzählte von den Schwestern und den Pflegern, die alle Idioten waren, und das Essen paßte ihm auch nicht. Zwischendurch riß Onkel Karl kleine Witze und lachte sich selbst darüber kaputt.
Dann fuhren wir überraschend zu Giselas Eltern zum Resteessen. Als wir nach Hause kamen, wollte Gisela mit mir schlafen, aber ich sagte: »Heute nicht. Es ist doch der erste Feiertag.«
Am Abend des zweiten Feiertags saßen wir am ausgeklappten Tisch in der Küche, zusammen mit einigen Freunden von Gisela, die ich noch nie gesehen hatte. Beck war auch da. Gisela hatte schon ab Mittag in der Küche gestanden, um ein mehrgängiges Menü herzurichten. Der Tisch war gedeckt mit Tellern, die zueinander paßten. Wir hatten eigentlich gar nicht so viele. Sie hatte sich Geschirr von ihren Eltern ausgeliehen, auch Stoffservietten und Silberbesteck und Weingläser. Ich trank Bier. Drei Pärchen hatten sich eingefunden. Zwei Medizinerpärchen und eine Juristenkombination. Was für ein Inzest. Was taten die wohl abends zu Hause? Gingen die gemeinsam den Seminarplan durch und stöhnten beim Vögeln Aminosäuren oder Strafmaßempfehlungen? Beim Essen nutzten die Mediziner ihre zahlenmäßige Überlegenheit. Sie erzählten von ihrem Präparationskurs, wie sie Haut von einer Leiche schälten und sich dann die Muskeln genau ansahen. Jeder bekam ein anderes Körperteil. Eine der Frauen hatte den Penis erwischt und fand das sehr interessant.
Der Jurist sagte, er wolle später auf jeden Fall zur Staatsanwaltschaft. Niemand sagte was, aber seine Freundin nickte.
Die Mediziner waren alle vier blond. Das Blond der Mädchen war falsch und das der Jungs sah nach Segeln aus. Sie hielten die Messer wie Skalpelle und die Gabeln wie große Zangen mit blutgetränkten Tupfern.
Der Jurist hatte dunkles, volles Haar, zurückgekämmt, lässig, ohne nachlässig zu wirken. Er trug eine Krawatte, die von einer kleinen, goldenen Klammer am weißen Hemd festgeklemmt wurde. Ich war froh, daß Britta mich so nicht sah. Der Jurist behandelte die Speisen auf seinem Teller, als wären sie persönliche Feinde, die seiner Familie viel Leid angetan hatten. Seine Freundin hatte ihr dunkles Haar streng zurückgekämmt und trug große, goldene Ohrringe und schwarze Strümpfe. Sie sagte nicht viel, und wenn sie was sagte, stimmte sie eigentlich nur dem Juristen zu.
Beim Dessert fing der Jurist eine Diskussion über die Todesstrafe an. Ich stand auf und ging aufs Klo. Als ich wieder herauskam, stand Beck vor mir.
»Meine Güte!« sagte er. »Was ist das denn für ein degoutantes, neureiches Pack?«
»Keine Ahnung. Freunde von Gisela.«
Wir gingen in Barbaras Zimmer, um ungestört zu sein. Barbara war über Weihnachten weggefahren. Beck legte sich aufs Bett und hielt Brandreden gegen Ärzte und Anwälte. Ich sah mich um. Ich war noch nie in diesem Zimmer gewesen, hatte nur ein paarmal hineingesehen. Ein Plakat von »Kinder des Olymp« hing an der Wand. Überall lagen Sachen herum. Die Stange, die vor ein paar Wochen noch an der Wand gehangen hatte und ihr den Kleiderschrank ersetzte, baumelte nun an zwei schweren Ketten von der Decke. Unterwäsche und Strümpfe lagen in Kisten. Beck redete, und ich sah mir alles an. Barbara hatte noch nie einen Mann hier gehabt, jedenfalls nicht, seitdem ich hier wohnte. Was machte sie, wenn sie mit einem Mann zusammen war?
Beck hatte mich etwas gefragt, aber ich hatte es nicht mitbekommen.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, ob du ein Perverser bist?«
»Wieso das denn?«
»Weil du schon seit Minuten in der Unterwäsche einer fremden Frau herumkramst.«
»Barbara ist keine Fremde.«
»Sollen wir noch irgendwohin gehen?« fragte Beck.
»Ich glaube nicht, daß Gisela noch Lust hat, rauszugehen«, sagte ich.
»Ich meine ja auch nur dich und mich.«
»Ich kann hier nicht weg.«
»Wieso
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