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Life - Richards, K: Life - Life

Titel: Life - Richards, K: Life - Life Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Richards
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Dartford entwickelte ein unglaubliches kriminelles Netzwerk - man braucht nur bei einigen Mitgliedern meiner weitläufigen Familie nachzufragen. So ist das Leben. Immer fällt hinten irgendwas vom Laster. Wenn plötzlich jemand mit was Hübschem aus Diamanten aufkreuzt, dann fragt man nicht: »Wo kommt das denn her?«
    Als ich neun oder zehn war, lauerte mir über ein Jahr lang nach guter Dartford-Tradition fast jeden Tag auf dem Nachhauseweg von der Schule irgendwer auf. Seither weiß ich, wie man sich als Feigling fühlt. Das werde ich mir nie wieder antun. Es wäre gar kein Problem gewesen, einfach abzuhauen, aber ich ließ mich
trotzdem vermöbeln. Meiner Mum sagte ich, dass ich mal wieder mit dem Fahrrad hingefallen sei. Worauf sie antwortete: »Junge, lass die Finger von dem Rad.« Früher oder später kriegen wir eben alle unsere Abreibung. Eher früher. Die einen sind Verlierer, die anderen Schlägertypen. Ich zog daraus ein paar nachhaltige Lehren für später, wenn ich groß genug sein würde, sie umzusetzen. Das Wichtigste ist, den Vorteil auszuspielen, den man als kleiner Scheißer hat: Geschwindigkeit. Was in der Regel heißt: abhauen. Aber irgendwann ist man es leid abzuhauen.
    Es war die alte Dartford-Abzocke. Inzwischen gibt es den Dartford-Tunnel mit Mautstellen: Jeder, der von Dover nach London will, muss da durch. Das Abkassieren ist legal, und die Schlägertypen tragen Uniform. Man zahlt, so oder so.
    Mein Garten war die Moorlandschaft von Dartford, drei Meilen Niemandsland zu beiden Seiten der Themse. Furchteinflößend und faszinierend zugleich, aber trostlos. Als Kinder sind wir immer bis runter ans Ufer, das war von zu Hause etwa eine halbe Stunde mit dem Fahrrad. Auf der anderen Seite des Flusses, am Nordufer, lag Essex County. Hätte genauso gut Frankreich sein können. Man konnte den Rauch von dem Ford-Werk in Dagenham sehen, und auf unserer Seite das Zementwerk in Gravesend. Letzteres ein passender Name, denn alles, was andernorts unerwünscht war, wurde seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Dartford abgeschoben: Quarantäne- und Pockenkrankenhäuser, Leprakolonien, Schießpulverfabriken, Irrenanstalten - eine nette Mischung. Dartford war seit der Pockenepidemie 1880 Englands Zentrum für die Behandlung dieser Krankheit. Die Krankenhäuser am Fluss quollen über, so dass man die Patienten in Long Reach auf Schiffen unterbrachte - ein makaberer Anblick, wenn man durch die Themsemündung Richtung London segelte, heute noch auf Fotografien zu sehen. Aber berühmt waren Dartford
und Umgebung für ihre Irrenhäuser - die verschiedenen Projekte des gefürchteten Metropolitan Asylums Board für mental Benachteiligte oder wie auch immer man diese Menschen heutzutage nennt. Man zog einen Gürtel um Dartford, als hätte irgendwer entschieden: »Okay, hier stecken wir jetzt die Irren rein.« Eine Einrichtung, ein klobiger, düsterer Gebäudekomplex, hieß Darenth Park und blieb bis in die jüngste Vergangenheit eine Art Arbeitslager für zurückgebliebene Kinder. Dann gab es noch das frühere City of London Lunatic Asylum, einen Bau im viktorianischen Stil, mit gotischen Giebeln und einem Turm mit Beobachtungsposten, das man später auf den etwas gefälligeren Namen Stone House Hospital umtaufte und wo mindestens einer der Jack-the-Ripper-Verdächtigen eingesperrt gewesen war, Jacob Levy, der hier an Syphilis starb. Einige der Irrenhäuser waren für schwerere, andere für leichtere Fälle. Als wir zwölf oder dreizehn waren, hatte Mick Jagger einen Sommerjob im Irrenhaus von Bexley, das Maypole genannt wurde. Ich glaube, da saßen die etwas betuchteren Verrückten, mit Rollstühlen und so. Dort lieferte Mick die Verpflegung an, ging herum und teilte das Mittagessen aus.
    Fast einmal pro Woche heulten die Sirenen los. Wieder war ein Verrückter abgehauen, den sie dann am nächsten Morgen zitternd in seinem Nachthemdchen im Dartford Heath wieder aufgabelten. Manche ließen sich nicht so leicht schnappen, die sah man dann manchmal durchs Gestrüpp kriechen. Das war ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Man glaubte sich immer noch im Krieg, weil sie bei einem Ausbruch die gleichen Sirenen aufheulen ließen.
    An was für einem schrägen Ort man da aufwuchs, bekam man gar nicht mit. Wenn man nach dem Weg gefragt wurde, sagte man: »Sie gehen jetzt da vorne an der Klapse vorbei, aber an der kleinen, nicht an der großen.« Und dann wurde man angestarrt, als wäre man gerade selbst aus der Klapse

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