Life - Richards, K: Life - Life
was bedeutete, ich spielte russisches Roulette mit den Autos - so viele Autos kamen damals allerdings nicht vorbei. Trotzdem, heute kann ich mir diese haarsträubenden Sturzfahrten gar nicht mehr vorstellen. Ich saß höchstens fünf Zentimeter über dem Boden, und diese Lady mit dem Kinderwagen hätte ohne die Hilfe Gottes alt ausgesehen! Ich schrie: »Aufpassen! Aus dem Weg!« Ich bin nie geschnappt worden. Damals kam man wirklich mit den unglaublichsten Sachen durch.
Aus dieser Zeit ist mir eine tiefe Narbe geblieben. Große, schwere Gehwegplatten lagen lose am Straßenrand, bevor sie im Zement verlegt wurden. Und weil ich mich natürlich für Superman hielt, wollte ich mal so eben mit einem Freund eins von den Dingern aus
dem Weg schaffen, weil es uns beim Fußballspielen störte. Erinnerungen sind Erfindungen, und eine alternative Erfindung dieses Vorfalls stammt von meiner Freundin und Spielkameradin Sandra Hull, die ich nach all den Jahren zurate zog. Sie erinnert sich, dass ich ihr galanterweise anbot, die Platte ein Stück zu verschieben, weil ihr beim Hüpfen die Lücke zwischen zwei Platten zu groß war. Sie erinnert sich auch an das viele Blut, das floss, als mir die Platte herunterfiel und einen Finger zerquetschte, und wie ich ins Haus rannte zum Waschbecken, wo das Blut alles rot färbte. Der Finger wurde genäht. Gut möglich, dass sich dieser Vorfall im Lauf der Jahre auf mein Gitarrenspiel auswirkte, auf meine Art zu zupfen, weil der Finger danach nämlich wirklich platter war. Was man aber nicht überbewerten sollte. Vielleicht hat es den Sound verändert. Ich finde damit mehr Halt. Außerdem riss es mir ein Stückchen Fleisch heraus, weshalb meine Hand beim Zupfen der Saiten ein bisschen wie eine Klaue aussieht. Der Finger ist also flach und gleichzeitig spitzer, was gelegentlich ganz praktisch ist. Der Nagel ist nicht so nachgewachsen, wie er vorher war, er ist irgendwie verbogen.
Der Weg zur Schule war lang. Um mich nicht über den steilen Temple Hill plagen zu müssen, ging ich hinten um den Hügel herum. Der Weg hieß Schlackeweg und war eben, aber das bedeutete auch, dass ich hinten an der Burroughs-Wellcome-Chemiefabrik, an der Bowater Papiermühle und an einem übelriechenden Flüsschen mit grün und gelb blubbernder Scheiße vorbei musste. Jede Chemikalie dieser Welt war in dieses wie eine heiße Schwefelquelle dampfende Rinnsal gekippt worden. Ich hielt die Luft an und ging schneller. Ein Fluss wie aus der Hölle. Vor der Fabrik befand sich ein kleiner Park mit einem wunderschönen Teich, auf dem Schwäne herumschwammen - so viel zum Thema »außen hui, innen pfui«.
Auf unserer letzten Tournee, als ich schon über diese Autobiografie nachdachte, hatte ich immer ein Notizbuch für Songs und Ideen dabei. Eine Eintragung lautet: »In meiner alten Tourtasche Schnappschüsse von Bert und Doris gefunden, aus den Dreißigern, beim Bockspringen, Tränen in den Augen.« Die Fotos zeigen die beiden bei Freiübungen - Bert beim Handstand auf Doris’ Rücken, beide beim Radschlagen und beim Posieren als lebende Bilder, wobei besonders Bert mit seinem Körper protzt. Auf jenen frühen Fotografien machen Bert und Doris einen rundum glücklichen Eindruck, beim Camping, am Meer, im Kreis ihrer vielen Freunde. Er war ein wahrer Athlet. Er war King’s Scout, das Höchste, was man als Pfadfinder werden kann. Und er war Boxer, ein irischer Boxer. Sehr körperfixiert, mein Dad. In dieser Hinsicht, glaube ich, habe ich etwas von ihm geerbt. »Also wirklich«, sagte er immer, »was soll das denn heißen, du fühlst dich nicht wohl?« Der Körper ist eine Maschine. Spielt keine Rolle, was man ihm alles zumutet, er hat zu funktionieren. Sich um seinen Körper sorgen? Was soll der Quatsch? Bei unserer Konstitution ist Schlappmachen unverzeihlich. Daran habe ich mich stets gehalten. »Ach was, ist doch bloß eine Kugel, eine kleine Fleischwunde.«
Doris und ich standen uns sehr nahe. Bert blieb da in gewisser Weise außen vor, schlicht deshalb, weil er die Hälfte der Zeit gar nicht da war. Bert war ein verdammt harter Arbeiter, einfach albern, für die paar Pfund die Woche, die sie ihm als Vorarbeiter bei General Electric in Hammersmith zahlten. Mit dem Verladen und dem Transport von Röhren kannte er sich aus. Über Bert kann man sagen, was man will, aber ehrgeizig war er nicht. Ich glaube, das lag daran, dass er während der Wirtschaftskrise aufgewachsen war. Seine Vorstellung von Ehrgeiz war, einen Job
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