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Life - Richards, K: Life - Life

Titel: Life - Richards, K: Life - Life Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Richards
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gestört. Eine halbe Ewigkeit ging das so, ein ganzes Zeitalter des Chaos. Oder war es doch nur ein Schuljahr? Jedenfalls kam es zu Massenaufläufen auf den Sportplätzen. Keiner wusste warum, aber plötzlich waren wir da, rund dreihundert
Schüler, die völlig ausgeflippt durch die Gegend sprangen. Eigentlich merkwürdig, dass niemand gegen uns vorging. Wahrscheinlich waren wir einfach zu viele. Und es gab ja keine Verletzten. Aber es muss eine gewisse Anarchie in der Luft gelegen haben, denn als der Obervertrauensschüler dann doch angerannt kam, wurde er gepackt und gelyncht. Swanton hieß er, einer dieser unvermeidlichen Oberstreber. An den kann ich mich noch gut erinnern - Captain der Sportmannschaft, Chef der Vertrauensschüler, der Beste der Besten in allem. Er nutzte seine Position gnadenlos aus, besonders gegenüber den Jüngeren. Wir beschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen. Als er angelaufen kam, regnete es in Strömen, wirklich abscheuliches Wetter. Wir rissen ihm die Klamotten runter und jagten ihn auf einen Baum. Nur die Mütze mit den goldenen Troddeln ließen wir ihm, die hatte er noch auf dem Kopf. Tja, Swanton kletterte irgendwann wieder runter und brachte es zum Professor für Mittelalterstudien an der University of Exeter. Das Schlüsselwerk English Poetry before Chaucer stammt von eben diesem Swanton .
    Einen netten Lehrer gab es dann doch, einen einzigen, der keine Befehle bellte: unseren Religionslehrer Mr. Edgington, der immer in einen taubenblauen Anzug mit Wichsflecken an den Beinen gehüllt war. Religionsunterricht bei dem wichsenden Mr. Edgington, fünfundvierzig Minuten »Widmen wir uns dem Lukas-Evangelium«, während wir uns zuflüstern: »Also entweder hat er sich bepisst, oder er kommt gerade vom Bumsen mit Mrs. Mountjoy.« Mrs. Mountjoy war die Kunstlehrerin.
    Meine kriminelle Energie wuchs von Tag zu Tag. Ich baute Scheiße, wo ich nur konnte. Dreimal gewannen wir den Geländelauf, ohne ihn ein einziges Mal absolviert zu haben. Beim Start waren wir immer mit dabei, dann zogen wir uns für ein Stündchen zum Rauchen zurück, und kurz vor dem Ziel reihten wir uns wieder
ein. Beim vierten Mal hatten sie Verdacht geschöpft und platzierten Aufsichtspersonen an der Strecke. Auf den mittleren elf Kilometern wurden wir nicht gesichtet.
    Unter meinem Zeugnis aus dem Jahr 1959 standen sechs Worte: Er hat das niedrige Niveau gehalten. Anscheinend hatten sie kapiert, dass ich mir wirklich Mühe gegeben hatte.
     
    Ganz unbewusst habe ich damals eine Menge Musik in mich aufgenommen. England lag oft unter einer dichten Nebelglocke - auch unter einem Nebel aus Worten. Gefühle wurden nicht gezeigt, man sprach überhaupt möglichst wenig. Wenn doch, redete man um die Dinge herum, in Codes und Beschönigungen. Vieles konnte man nicht mal in Anspielungen aussprechen. Eine Hinterlassenschaft des viktorianischen Zeitalters, die in den alten Schwarz-Weiß-Filmen der frühen Sechziger wie Samstagnacht bis Sonntagmorgen und Lockender Lorbeer wunderbar eingefangen wurde. Das Leben war schwarz-weiß. Die Erfindung des Technicolor sollte nicht mehr lang auf sich warten lassen, doch im Jahr 1959 war man noch nicht so weit. Dennoch - die Leute haben nun mal ein echtes Bedürfnis, sich ihren Mitmenschen mitzuteilen, ihr Herz zu rühren. Dafür ist dann die Musik zuständig. Was du nicht sagen kannst, musst du singen. Hört euch doch mal die Songs an, die damals gespielt wurden - unglaublich romantische, bedeutungsschwangere Lieder, die Dinge ausdrücken wollten, die man unmöglich zu Papier bringen konnte. Nicht mal in einem Brief. Das Wetter ist gut, hier ist es gerade halb acht, der Wind hat nachgelassen. PS: Ich liebe dich.
    Doris war da anders. Sie war musikalisch, genau wie Gus. Mit drei oder vier, vielleicht auch fünf, auf jeden Fall kurz nach Kriegsende, hörte ich schon Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan, Big Bill Broonzy und Louis Armstrong. Diese Musik sagte mir was. Ich
lauschte ihr jeden Tag, weil Mum sie pausenlos laufen ließ. Irgendwann hätten mich meine Ohren sowieso in die schwarzen Viertel der Stadt gezogen, doch sie bereitete sie auch noch unwissentlich darauf vor. Damals hatte ich ja keine Ahnung, ob die Sänger weiß, schwarz oder grün waren. Aber wenn man ein Ohr dafür hat, registriert man irgendwann den Unterschied zwischen Pat Boones »Ain’t That a Shame« und Fats Dominos »Ain’t That a Shame«. Nicht, dass Pat Boones Version schlecht wäre, ganz im Gegenteil - er war ein

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