Life - Richards, K: Life - Life
befinde mich in der ersten Reihe. Das Foto wurde 1955 auf einer Chorreise nach London aufgenommen. Wir sollten in der St. Margaret’s Church in der Westminster Abbey auftreten - bei einem Sängerwettstreit zwischen verschiedenen Schulen, der vor der Queen höchstpersönlich ausgetragen wurde. Unser Schulchor, diese Ansammlung von Bauerntölpeln aus Dartford, hatte es weit gebracht. Landesweit heimsten wir Pokale und Preise ein. Als Sopranisten, und damit quasi als Stars der Show, glänzten Terry, Spike und ich. Der Lehrer auf dem Foto war unser Chorleiter, Jake Clare, ein Genie, das einen Haufen hoffnungsloser Dilettanten zu einer schlagkräftigen Elitetruppe zusammengeschweißt hatte. Jake Clare, das große Geheimnis: Viele Jahre später fand ich heraus, dass er früher als Chorleiter in Oxford gearbeitet hatte. Er hatte zu den besten Großbritanniens gehört, aber dann hatte man ihn degradiert, weil er mit kleinen Jungs auf Tuchfühlung gegangen war. Also ab in die Wüste beziehungsweise in die Kolonien, und auf ein Neues. Doch ich will seinen Namen nicht in den Dreck ziehen, schließlich weiß ich das Ganze nur vom Hörensagen. Auf jeden Fall war er deutlich talentiertere Schüler gewohnt. Was wollte er also in Dartford? Immerhin rührte er uns nicht an, obwohl er als großer Anhänger des Taschenbillards bekannt war. Und er ließ nicht locker, bis wir zu den besten Chören des Landes zählten. Wir drei Sopranisten waren sowieso die besten, die er kriegen konnte. Wir errangen einen
Haufen Preise, die an der Wand der Aula prangten. Bis heute habe ich keinen prestigeträchtigeren Gig gespielt als den in der Westminster Abbey. Verarscht wurde man schon: »Oh, sind wir etwa ein kleiner Chorjunge? Tuntenschwuchtel!« Aber das war mir egal, denn der Chor war einfach toll. Man durfte mit dem Bus nach London fahren. Man durfte Physik und Chemie schwänzen - allein das wäre es wert gewesen. Und ich lernte einiges über Singen und Musik, über das Zusammenspiel von Musikern. Zum Beispiel, wie man eine Band zusammenstellt - Band oder Chor, es läuft aufs Gleiche raus - und wie man sie beisammenhält.
Und dann war die Kacke plötzlich am Dampfen.
Der Stimmbruch. Jake Clare setzte uns Sopranisten einfach an die Luft. Zu allem Überfluss mussten wir die Klasse wiederholen, weil wir kein Physik und kein Chemie gehabt und Mathe vernachlässigt hatten. »Aber wir wurden doch für die Chorproben freigestellt. Wir haben uns für euch den Arsch aufgerissen.« Das hatten wir nun davon. Klar, dass es von da an steil bergab ging. Mit meinen dreizehn Jahren musste ich plötzlich in die Klasse unter mir - das ganze Schuljahr von vorne. Das war ein heftiger Schlag ins Gesicht. Spike, Terry und ich fackelten nicht lange - wir wurden zu Terroristen. Ich war unglaublich wütend, ich wollte Rache. Wenn es nach mir ging, sollte das ganze Land in sich zusammenstürzen, das ganze Land und alles, was es repräsentierte.
Die nächsten drei Jahre machte ich meinen Lehrern das Leben zur Hölle. Zumindest gab ich mir große Mühe. Sie hatten ein todsicheres Rezept entdeckt, wie man einen Rebellen heranzüchtete. Ich schnitt mir nicht mehr die Haare. Ich trug zwei Hosen übereinander, eine hauteng anliegende unter der vorgeschriebenen Flanellhose. Letztere zog ich aus, sobald ich auch nur einen Schritt aus der Schule war. Ich ließ keine Gelegenheit aus, ihnen auf die Nerven zu gehen. Natürlich brachte das nichts, außer zahllose
böse Blicke von meinem Vater. Aber nicht mal das konnte mich stoppen. Ich wollte ihn ja wirklich nicht enttäuschen, aber was sein musste, musste sein. Sorry, Dad.
Diese Demütigung schmerzt bis heute, dieses Feuer brennt noch immer. Damals fing ich an, die Welt mit anderen Augen zu sehen - nicht mehr mit ihren Augen. Damals begriff ich, dass es größere Tyrannen gab als die, die ich gewohnt war - und zwar die da oben , die Obrigkeit. Damals wurde eine Lunte entzündet, die langsam, aber sicher abbrannte. Ich hätte auf tausend Arten für meinen Rauswurf sorgen können, aber ich fürchtete mich vor meinem Dad. Der hätte mich sofort durchschaut, der hätte gemerkt, dass ich es drauf angelegt hatte. Also musste ich die Sache langsam angehen. Ein Zermürbungskrieg gegen das System. Die, die mir angeblich was zu sagen hatten, interessierten mich nicht mehr. Mir doch egal, was sie von mir erwarteten. Und die Zeugnisse? Her mit den Zeugnissen, ich regle das schon. Ich wurde zum Fachmann für aufgehübschte Zeugnisse. Er
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