Life - Richards, K: Life - Life
Deshalb galt kommerziell damals als besonders schlimmes Schimpfwort. Allein schon der sprachliche Kampf in den Musikzeitungen spiegelte die echten politischen Faustkämpfe wider: Ausdrücke wie »Schundhändler«, »legalisierter Mord« oder »Ausverkauf«. Es gab aberwitzige Diskussionen über Authentizität. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass es in England ein Publikum für Bluesmusiker gab. In Amerika hatten sich die meisten dieser Musiker bereits daran gewöhnt, als Teil einer Unterhaltungsshow aufzutreten, was, wie sie sehr schnell herausfanden, im Vereinigten Königreich nicht gut ankam. Hier konnte man den Blues wirklich spielen. Big Bill Broonzy merkte, dass er mehr Kohle einstreichen konnte, wenn er für ein europäisches Publikum vom Chicago-Blues auf folknahen Bluesman umschaltete. Die Hälfte dieser schwarzen Jungs kehrte gar nicht mehr nach Amerika zurück, weil ihnen klarwurde, dass sie zu Hause wie der letzte Dreck behandelt wurden, während sich hier reizende dänische Hasen geradezu überschlugen, um sich ihrer anzunehmen. Warum also heimfahren? Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie gemerkt, dass sie in Europa gut behandelt wurden, besonders in Paris, wie Josephine Baker, Champion Jack Dupree und Memphis Slim wussten. Deshalb wurde Dänemark in den Fünfzigern für viele Jazzmusiker der neue Zufluchtsort.
Mick und ich hatten den absolut gleichen Musikgeschmack. Es gab keine Fragen, keine Erklärungen. Das ging alles wortlos. Wenn wir uns was anhörten, schauten wir uns einfach an. Alles drehte sich immer um den Sound. Wir hörten eine Platte und sagten: Das stimmt nicht, falsch. Oder: Das ist echt. Es war entweder: Das ist es, oder: Das ist es nicht , ganz egal, von welcher Art Musik die
Rede war. Sogar Popmusik war gut, wenn sie richtig klang. Aber es gab diese klare Grenze zwischen dem Richtigen und dem Falschen. Sehr deutlich. Ich glaube, dass es für Mick und mich vor allem darum ging, noch mehr zu lernen. Da war der Rhythm and Blues, aber wir mochten auch Pop-Platten. Her mit den Ronettes, den Crystals. Ich konnte sie die ganze Nacht hören. Aber wehe, wenn wir es gewagt hätten, damit auf die Bühne zu gehen. Dann hätte es geheißen: »Ab in die Besenkammer!«
Ich suchte nach der Seele des Ganzen - dem Ausdruck. Es gäbe keinen Jazz ohne den Blues, der von der Sklaverei kommt - und zwar der jüngsten und ganz spezifischen Form von Sklaverei, nicht etwa der von uns armen Kelten unter der römischen Knute. Diese Sklaven haben nichts als Elend erfahren, und zwar nicht nur in Amerika. Die Überlebenden haben etwas zustande gebracht, das wirklich elementar ist. Man kann es nicht mit dem Verstand begreifen, man muss es im Bauch spüren. Es geht nicht bloß um die Musikalität, die sehr unterschiedlich und dynamisch ist. Es gibt hunderttausend verschiedene Arten von Blues. Beispielsweise diesen ganz leichten Blues, aber eben auch Blues aus den Sümpfen, und im Sumpf bin ich im Wesentlichen zu Hause. Hör dir John Lee Hooker an. Er hat eine sehr archaische Art zu spielen. Akkordwechsel werden da meist übergangen. Sie werden nur angedeutet, gar nicht richtig realisiert. Wenn er mit einem anderen spielt, überlässt er dem den Akkordwechsel, während er bleibt, wo er ist. Er ändert nichts. Da ist er unerbittlich. Und das andere, das Wichtigste gleich nach der tollen Stimme und dieser unerbittlichen Gitarre, ist das Aufstampfen, die crawling kingsnake . Er brachte sich immer einen fünf mal zehn Zentimeter großen Holzblock mit, um sein Gestampfe zu verstärken. Auch Bo Diddley wollte nur diesen einen elementaren Akkord spielen. Alles auf einem Akkord. Dabei ändert sich nur die Stimme und die Art, wie man spielt. Genaueres
darüber habe ich erst sehr viel später erfahren. Zunächst gab es nur diese unglaublich kraftvollen Stimmen: Muddy, John Lee, Bo Diddley. Sie musste gar nicht laut sein, die Stimme, sie kam nur von sehr weit unten. Der gesamte Körper war daran beteiligt; sie waren nicht bloß mit dem Herzen dabei, sondern holten Luft aus dem tiefsten Inneren. Das hat mich immer beeindruckt. Deshalb gibt es auch einen so großen Unterschied zwischen den Bluessängern, die kein Instrument spielen, und jenen, die es tun, sei es Klavier oder Gitarre, weil sie ihre eigene Ausdrucksweise für call and response entwickeln müssen. Du singst was, dann musst du was spielen, das darauf reagiert oder eine weitere Frage stellt, und dann löst du es auf. Auf die Weise laufen Timing und
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