Lila Black 01 - Willkommen in Otopia
Pose.
Er sprang blitzartig übers Bett und entwischte durch die Verbindungstür in ihr Zimmer. Lila war so verdutzt, dass sie sich zwei Sekunden gar nicht rührte. Als sie schließlich hinter ihm herstürzte, konnte sie kaum fassen, dass er sie so leicht ausgetrickst hatte.
Die weiteren Türen auf seinem Fluchtweg standen offen. Sie sah ihn in dem Meerblickzimmer wie ein Hürdenläufer über ein Sofa setzen, dann war er schon auf dem Balkon und übers Geländer, ehe sie irgendetwas rufen konnte. Wenn es eine Olympiade der Separierten Sphären gäbe, würden die Elfen in allen Laufdisziplinen siegen, dachte Lila, als sie Zal nach einem Sprung, bei dem sich jeder normale Mensch die Beine gebrochen hätte, wie eine Katze landen, sich abrollen und weiterrennen sah. Als sie selbst aufkam, spürte sie einen scharfen Schmerz und hörte ein mechanisches Sirren und Mahlen, als sich Motoren zu ihrem Schutz aktivierten. Pfeilspitzen und Nadeln schienen sich ins Innere ihrer Beine und in ihr Rückgrat zu bohren. Sie erkannte, dass es ein Fehler gewesen war, die Beinpanzer nicht abzulegen, aber so schlimm war es noch nicht, sie konnte noch laufen.
Zal rannte in einem Höllentempo den Weg entlang, der in den Wald führte, und Lilas Schmerzen wurden immer schlimmer, während sie hinter ihm herhetzte. Ihre KI beschwor sie, ihr Tempo zu drosseln, informierte sie, dass weitere Anstrengung zu schwerwiegenden Rissen zwischen den neuen Gewebeschichten und dem System führen könnten. Aber Zal war offensichtlich gut trainiert, und ihr war klar, dass er sie abschütteln würde, wenn sie auch nur ein bisschen langsamer liefe. Also rannte sie weiter, gehandicapt durch das zusätzliche Gewicht ihrer Waffen.
Sie holte allmählich auf, bis sie die Hügelkuppe erreichten und sie sein wehendes, helles Haar plötzlich aus den Augen verlor. Er hatte sich in den dichten Wald geschlagen. Lila bog an derselben Stelle vom Weg ab.
Plötzlich fuhr ihr ein eisiger Windstoß ins Gesicht. Ein Sperrfeuer von Blättern und Erde prasselte auf ihre Haut und flog ihr in die Augen, sodass sie nichts mehr sah. Sie konnte nicht schnell genug stehen bleiben und rammte mit der linken Schulter den starren Stamm einer jungen Eiche. Sie geriet ins Taumeln, und ihr blieb die Luft weg. Unsichtbare Hände schubsten sie. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel mitten zwischen die Erdgeister, die sie zu begraben suchten.
Noch nie hatte sie sie so massiert auftreten und so entschlossen zusammenarbeiten sehen. Es tat zwar weh und war lästig, aber als sie erst einmal wusste, was es war, konnte sie aufstehen und sich auf den Weg zurückziehen, um sich den Dreck aus den Augen zu wischen. Danach war sie in der Lage, in dem Schattendunkel etwas zu erkennen.
Erd-, Luft- und Steingeister drängten sich im Schutz der Bäume und wechselten unablässig ihre Gestalt von Nebel zu Nichts und wieder zu Nebel. Augen, die leere Flecken in Nebelkörpern waren, starrten sie wütend an, wurden immer größer und verschwanden, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen. Irgendwo ganz in der Nähe ließ ein Holzgeist seine flötenartigen Knochen gegen lebende Baumstämme klappern. Hoch über Lila schrie ein Adler, alarmiert durch so viel Urkraft an einem Ort.
Sie setzte einen Fuß neben den Weg, und sofort sammelten sich all die kleinen Geister zum semimateriellen Körper eines riesigen Hirschs, der ihr mit gesenktem Geweih gegenüberstand. Lilas einziger Gedanke war, dass Zal sich immer weiter entfernte und ihre Chancen, ihn einzuholen oder auch nur zu entdecken, mit jeder Sekunde schwanden.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Aber ihr seid mir im Weg.« Sie trat vor, stemmte die Hände gegen die seltsam schwammige Gestalt des Hirschs und schob.
Der Widerstand war erbittert. Lila hätte nie gedacht, dass so flüchtige Wesen wie Elementargeister sich zu etwas so Starkem zusammenrotten konnten, jedenfalls nicht in Otopia. Sie grub die Füße in den Boden, um mehr Halt zu finden, aber der Boden bewegte sich, als würde er von unten auseinandergezogen.
Lila ging auf volle Kraft und schob. Ein Schmerz wie Feuer schoss durch ihre Wirbelsäule und in ihre Hüften, als die Nicht-Substanz des Hirschs einen Moment standhielt und sie zwischen unerbittlicher Technik und unverrückbarer Energie wie in einer Schraubzwinge gefangen war. Dann ließ plötzlich aller Widerstand nach, und der Hirsch löste sich auf. Lila stolperte nach vorn, wankte und rutschte auf dem turbulenten Boden. Sie fühlte sich wie auf
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