Lila Black 01 - Willkommen in Otopia
Das Chi- Muster ist hochinteressant. Vielleicht entdecken Sie ja noch andere Anwendungsformen dafür, während Sie hier sind.«
»Soll das eine anzügliche Bemerkung sein?«, fragte sie, während sie eine Nadel wählte und sie behutsam mit der Fingerspitze in seine Haut stach. Ihre KI erfüllte diese Aufgabe effizient und distanziert.
»In Anbetracht der Umstände bin ich vielleicht etwas zu weit gegangen«, gab Dar zu.
»Ich wollte zuerst röntgen«, informierte ihn Lila, und eine Nadel später erntete sie eine Reaktion.
»Ich bin froh, dass Sie’s nicht getan haben«, brachte Dar heraus. »Die Wellenlängen sind für unser ätherisches Selbst extrem schädlich.«
»Dann habe ich also gleich zwei Waffen in einem Erste-Hilfe-Set: Röntgenstrahlen und Ultraschall«, sagte sie. »Nicht schlecht. Allmählich gefällt es mir hier.« Sie machte weiter, setzte ihm vorsichtig Nadeln in Stirn, Ohren und Hände. Nach der sechsten seufzte er und entspannte sich sichtlich. Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Sie legte ihm kurz die Hand auf die Brust, prüfte die EKG-Kurve. »Wirklich beeindruckend«, sagte sie.
»Jetzt, wo der Schmerz weg ist, vermag ich selbst festzustellen, was mir fehlt, wenn auch Ihr Betäubungsmittel meine Wahrnehmung etwas abgestumpft hat. Aber wir können weitermachen. Ich nehme an, Sie sind kein Mensch mit magischen Fähigkeiten?«
»Da liegen Sie richtig«, sagte Lila. »Ich hätte nicht mal geglaubt, dass es so etwas gibt.«
»Wir brauchen eine Verbindung«, sagte er, als hätte er nichts gehört. »Etwas, was uns für kurze Zeit spirituell vereint.«
»Ich bin Atheistin«, beschied sie ihn. »Eine Maschine, seelenlos. Thanatopia ist für mich nur eine Legende, und solange ich keinen Beweis kriege, halte ich es mit den Naturwissenschaftlern. Ich glaube nur das, was ich sehe.«
»Dumm. Aber Ihre Meinung dazu spielt keine Rolle«, sagte Dar. Seine Stimme war jetzt lauter und klangvoller, fast wieder normal. »Wir beide sollten uns für eine Weile in einem Kohärenzzustand befinden. Das ist ein physiologisches Phänomen, das Sie messen können, wenn Sie wollen. Es lässt sich am besten durch eine Form von wechselseitiger Empathie herstellen.«
»Das dürfte nicht leicht sein.« Lila musste sich eine schärfere Antwort verkneifen – dumm hatte er sie genannt! Er hatte ja keine Ahnung, wie schwer es war, sich dem otopischen Trend zurück zur Religion, den die Medien immer wieder mit irgendwelchen neuen Enthüllungen über Thanatopia anheizten, entgegenzustemmen.
Zum Glück konnte Dar ihre Gedanken nicht hören. »Strapazieren Sie mich nicht mit Ihrer Art zu reden. Wenn Sie Zal retten wollen, müssen Sie lernen, korrekt zu sprechen.«
»Was soll das heißen?« Nicht mal Lilas KI konnte ihre heftigen Gefühle ganz unterdrücken. Sie war sauer.
»Um mich zu retten, müssen Sie korrekt sprechen. Hören Sie mir gut zu …«
Sie sagte sarkastisch: »Weil Sie es nämlich nur einmal sagen werden?«
»Danke für diese kulturspezifische Spitze. Ich verstehe Sie sehr wohl. Aber Sie vergeuden Zeit. Hören Sie dem Elfen mit den beiden Brustkorbdrainagen zu, weil ihm das Sprechen schwerfällt.«
Er musste sich erst einmal ausruhen, und Lila überflutete eine neue Welle der Scham. Sie konnte sich im Moment nicht besonders leiden. Sie wollte Dar bestrafen, dafür, dass er diese Gefühle in ihr weckte, und für all ihre Alpträume der letzten Jahre, für die Schmerzen und die Klinik, für ihren Metallkörper und ihre Schwäche, ihre idiotischen Gefühle für Zal. Und zugleich war sie absurd dankbar dafür, dass sie beide hier und am Leben waren. Sie lauschte Dars mühsamem Atmen und dem Tropfen des Blutes, betrachtete, was sie ihm zugefügt hatte. »Ich höre.«
»Frau Doktor«, begann er. »Es ist so: Ein ausgesprochenes Urteil, so wie Ihre Bemerkung eben, dass Empathie zwischen uns nicht leicht sein könne, ist ein Schwert und ein Schild zwischen uns. Ihre Rede ist mit beiläufiger Aggression durchsetzt.« Er musste wieder innehalten.
»So reden wir nun mal in Otopia«, sagte Lila defensiv. »Es ist nicht so gemeint …«
»Sehen Sie?«, sagte er und holte zwischendurch gurgelnd Luft. »Ich werfe Ihnen Aggression vor, und Sie reagieren wieder mit Aggression. Sie können nicht anders. Fühlen Sie das? Wenn die Rede achtlos ist und Menschen mit Etiketten versieht, statt einfach festzustellen, was passiert ist, wenn die Rede als Waffe benutzt wird, dann bleibt uns nichts anderes, als zu kämpfen. Es
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