Liliane Susewind - So springt man nicht mit Pferden um
ängstlich um, und als sie die Hecke erreichten, krabbelte sie als Erste hinein und machte sich so klein, wie sie nur konnte. Jesahja folgte ihr. Dann warteten sie.
Keine fünf Minuten später ritt Egobert auf Storm auf den Platz. Lilli sog ruckartig die Luft ein und verfolgte mit hämmerndem Herzen, was geschah.
Storm wehrte sich. Er stampfte mit den Hufen auf, bockte und versuchte, seinen Reiter abzuwerfen. Da holte Egobert mit der Reitgerte aus. Lilli schloss voll Grauen die Augen. Aber allein das Geräusch der Gerte, die auf Storms Flanke niederpeitschte, ließ sie zusammenfahren. Neben ihr zuckte auch Jesahja zusammen.
Lilli mochte die Augen gar nicht wieder öffnen. Nach einer Minute stupste Jesahja sie jedoch an, und Lilli sah gezwungenermaßen wieder auf den Platz. Überrascht stellte sie fest, dass Egobert abgestiegen war und Storm festgebunden hatte. Nun kramte der Trainer in seiner Hosentasche herum. »Was macht er da?«, flüsterte Lilli, doch Jesahja antwortete nicht. Sein Gesichtsausdruck wirkte hochkonzentriert – und beunruhigt.
Aus seiner Tasche zog Egobert eine kleine Tube hervor, die an Zahnpasta erinnerte. Dann drückte er eine weißliche Paste aus der Tube und bückte sich, um Storms Vorderläufe damit einzureiben.
Lilli warf Jesahja einen verwirrten Blick zu. Jesahja hob ratlos die Achseln und schien ebenso wenig wie sie zu verstehen, was der Trainer da machte.
Nachdem Egobert Storms Beine eingerieben hatte, versuchte er, sich wieder in den Sattel zu schwingen. Im gleichen Augenblick schrie Storm jedoch auf und stieg auf die Hinterläufe. »Weg, Mensch!«, wieherte er, und Egobert wurde zu Boden gestoßen. Er rappelte sich allerdings schnell wieder auf, und kaum, dass er auf den Beinen stand, holte er wütend mit der Gerte aus. Lilli schloss abermals krampfhaft die Augen und wollte sich die Ohren zuhalten. Doch ihre Hände waren nicht schnell genug. Sie hörte ein weiteres peitschendes Geräusch und einen ächzenden Schmerzensschrei. Lilli hielt es kaum noch aus. »Wir müssen was unternehmen!«, flüsterte sie. »Wir können doch nicht nur hier rumsitzen!«
Jesahja legte die Hand auf ihren Arm. »Wir können im Moment nichts machen. Wir können nicht einfach zu Egobert laufen und sagen, er soll Storm nicht mehr schlagen! Er würde uns auslachen. Oder Schlimmeres tun …«
Lilli zitterte. Es stimmte, was Jesahja sagte, aber es war schrecklich für sie, miterleben zu müssen, wie ein Tier derartig gequält wurde. Als sie erneut auf den Trainingsplatz blickte, erkannte sie, dass Egobert mittlerweile wieder auf Storms Rücken saß und ihn zu den Hindernissen lenkte. Storms Körperhaltung verriet, dass er sich nun nicht mehr gegen seinen Reiter auflehnen würde. Die Schläge hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
Das erste Hindernis kam heran, und Storm sprang. Obwohl Lilli tief aufgewühlt war und dem Ganzen am liebsten auf der Stelle ein Ende bereitet hätte, entging ihr nicht, mit welcher Eleganz Storm über die Hürde sprang. Leicht und anmutig flog er über die Stangen, und seine Schönheit brachte Lilli unwillkürlich dazu, ihm fasziniert zuzuschauen. Er steuerte auf das nächste Hindernis zu, und über dieses sprang er mit ebenso viel Grazie wie über das vorherige. Dann hielt er auf eine besonders hohe Hürde zu. »Ay!«, rief Egobert und bohrte seine Sporen tief in die Flanken des Hengstes, um ihn anzutreiben. Da scheute Storm plötzlich und versuchte auszubrechen. Egobert benutzte jedoch augenblicklich seine Reitgerte und lenkte den Hengst wieder vor das Hindernis. Storm hatte nun aber seinen Schwung verloren und musste beinahe aus dem Stand über das hohe Hindernis springen. Dabei riss er die oberen Stangen ab, die laut knallend zu Boden fielen. Lilli zuckte zusammen – aber nicht wegen des Lärms, den die herabkrachenden Stangen im Morgengrauen machten. Weitaus erschreckender war der Schrei, den Storm ausstieß, als seine Beine gegen die Stangen schlugen. Der Schmerz, der darin lag, ging Lilli durch Mark und Bein.
Egobert erlaubte Storm keine Verschnaufpause. Unerbittlich trieb er ihn weiter. Dabei nahm er die Kurve, die zum nächsten Hindernis führte, so knapp, dass Storm beim Springen ein weiteres Mal die oberste Stange herunterriss. Und kaum kamen die Vorderbeine des Hengstes mit der Stange in Berührung, stöhnte er abermals aus tiefster Brust. »Ahhh!« Egobert schlug ihn sofort mit der Gerte.
»Da stimmt was nicht!«, stieß Lilli entsetzt hervor. »Warum tut es ihm so
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