Lilien im Sommerwind
Auslöser, stellte Tory fest, während sie langsam aufstand. Ihre Großmutter war das Bindeglied zu ihrer Kindheit. Zu Hope.
In Hope hinein, dachte sie, während sie die Terrassentür schloss. In den Schmerz und die Angst und das Entsetzen in jener schrecklichen Nacht. Und sie wusste immer noch nicht, wer es getan hatte oder warum.
Zitternd ging Tory ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die heiße Dusche.
»Ich kann dir nicht helfen«, murmelte sie und schloss die Augen. »Ich konnte dir damals nicht helfen, und ich kann es auch jetzt nicht.«
Ihre beste Freundin, ihre Herzensschwester, war in jener Nacht im Sumpf gestorben, während sie, in ihrem Zimmer eingeschlossen, heiße Tränen weinte wegen der Schläge, die sie bekommen hatte.
Und sie hatte es gewusst. Sie hatte es gesehen. Sie war hilflos gewesen.
Schuldgefühle, so frisch wie vor achtzehn Jahren, überfluteten sie. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie noch einmal, »aber ich komme zurück.«
Wir waren acht Jahre alt in jenem Sommer. In jenem lange vergangenen Sommer, als die heißen Tage endlos schienen. Es war ein Sommer der Unschuld und der albernen Streiche und der Freundschaft, die Art von Sommer, die uns wie eine hübsche Glaskugel umhüllt. Doch eine Nacht hat alles verändert. Seitdem war für mich nichts mehr wie vorher. Wie hätte es das auch sein können?
Die meiste Zeit im Leben habe ich es vermieden, darüber zu sprechen. Die Erinnerungen oder die Bilder hat das jedoch nicht verhindert. Aber eine Zeit lang versuchte ich, sie zu begraben, so wie Hope begraben war. Dies jetzt laut auszusprechen, wenn auch nur für mich, ist eine Erleichterung. Als zöge ich einen Splitter aus meinem Herzen. Der Schmerz wird noch eine Weile anhalten.
Sie war meine beste Freundin. Unsere Bindung besaß eine Tiefe und Intensität, wie sie nur Kinder herstellen können. Vermutlich waren wir ein seltsames Paar, die blonde, privilegierte Hope Lavelle und die dunkelhaarige, schüchterne Tory Bodeen.
Mein Vater hatte ein kleines Stück Land gepachtet, eine winzige Ecke der großen Plantage, die ihrem Vater gehörte. Manchmal, wenn ihre Mama ein großes Gesellschaftsessen oder eine ihrer prächtigen Partys gab, dann half meine Mama beim Saubermachen und Servieren.
Aber diese Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten berührte unsere Freundschaft nie. Das kam uns einfach nie in den Sinn.
Hope lebte in einem prächtigen Haus, das einer ihrer exzentrischen Vorfahren so gebaut hatte, dass es eher einem Schloss glich als den georgianischen Villen, die damals so beliebt waren. Es war aus Stein, mit Türmen und T ü rmchen und Zinnen. Aber Hope hatte nichts von einer Prinzessin.
Sie lebte für Abenteuer. Und wenn ich mit ihr zusammen war, tat ich das auch. Ich floh aus dem Elend und dem Aufruhr in meinem Zuhause und meinem Leben und wurde ihre Partnerin. Wir waren Spione, Detektive, Ritter auf dem Kreuzzug, Piraten oder Raumfahrer. Wir waren tapfer und aufrichtig, kühn und wagemutig.
Im Frühling vor jenem Sommer ritzten wir uns mit ihrem Taschenmesser die Handgelenke auf. Feierlich tauschten wir unser Blut aus. Wir hatten wahrscheinlich Glück, dass wir keinen Wundstarrkrampf bekamen. Stattdessen wurden wir Blutsschwestern.
Sie hatte eine Zwillingsschwester. Aber Faith nahm selten an unseren Spielen teil. Sie fand sie zu albern oder zu rau und schmutzig. Irgendetwas hatte Faith immer daran auszusetzen.
Wir vermissten ihre Wutausbrüche oder ihre Klagen nicht. In jenem Sommer waren Hope und ich die Zwillinge.
Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich sie liebe, wäre ich verlegen geworden. Ich hätte die Frage nicht verstanden. Aber ich habe sie seit jener schreckli chen Augustnacht jeden Tag ver misst. Sie hat mir gefehlt wie jener Teil von mir, der mit ihr gestorben ist.
Wir wollten uns im Sumpf, an unserem geheimen Ort, treffen. Vermutlich war er gar nicht besonders geheim, aber er gehörte uns. Wir spielten oft dort, in der feuchten grünen Luft, und erlebten unsere Abenteuer zwischen Moos, wilden Azaleen und dem Gesang der Vögel.
Man hatte uns verboten, nach Sonnenuntergang dort hinzugehen, aber wenn man acht Jahre alt ist, ist es aufregend, Verbote zu missachten.
Ich wollte Marshmallows und Limonade mitbringen - zum Teil aus purem Stolz. Meine Eltern waren arm, und ich war noch ärmer, aber ich musste etwas dazu beitragen, und so hatte ich das Geld gezählt, das ich in dem Steinkrug unter meinem Bett versteckte. Ich besaß in
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