Lilien im Sommerwind
Stimme dröhnte. Und unter diesem Dröhnen schwelte eine verborgene Erregung, eine gemeine Art von Lust, die ich nicht verstand, nicht kannte. Kein Kind sollte etwas über diese schlüpfrigen Untertöne wissen, und eine Zeit lang zumindest blieb auch ich davon verschont.
Als er mich das erste Mal schlug, war ich fünf. Meine Mutter versuchte, ihn aufzuhalten, und er verpasste ihr dafür ein blaues Auge. Sie versuchte es nie wieder. Ich weiß nicht, was sie an jenem Abend tat, während er den Teufel aus mir herausprügelte, der mir die Visionen eingab. Vor meinen Augen und in meinem Kopf war nur ein blutroter Schleier.
Der Schleier war Hass, aber das wusste ich ebenfalls nicht.
Als er ging und die Tür von außen abschloss, weinte ich. Nach einer Weile schlief ich über den Schmerzen ein.
Als ich erwachte, war es dunkel, und mir kam es so vor, als ob ein Feuer in mir brannte. Ich kann nicht sagen, der Schmerz sei unerträglich gewesen, weil ich ihn ja ertrug. Was blieb mir anderes übrig? Auch ich betete, ich betete darum, dass das, was in mir herrschte, nun endlich ausgetrieben worden war. Ich wollte nicht böse sein.
Und noch während ich betete, baute sich der Druck in meinem Magen auf, und das Prickeln erschien, wie scharfe, kleine Finger, die über meinen Nacken tanzten. Es war das erste Mal, dass es so zu mir kam, und ich glaubte, ich sei krank und habe Fieber.
Dann sah ich Hope, so lebendig, als ob ich auf unserer Lichtung im Sumpf neben ihr säße. Ich roch die Nacht, das Wasser, hörte das Sirren der Moskitos, das Summen der Insekten. Und wie Hope hörte ich das Rascheln im Gebüsch.
Wie Hope empfand ich Angst. Heiß stieg sie in mir auf. Als Hope wegrannte, rannte auch ich, und meine Brust schmerzte von meinem keuchenden Atem. Ich sah, wie sie fiel, weil jemand sie ansprang. Ein Schatten, ein Umriss. Ich konnte ihn nicht klar erkennen, aber ich konnte sie sehen.
Sie rief nach mir. Schrie nach mir.
Dann sah ich nur noch schwarz. Als ich erwachte, war die Sonne aufgegangen, und ich lag am Boden. Und Hope war fort.
2
Sie hatte beschlossen, sich in Charleston zu verlieren, und fast vier Jahre lang war es ihr auch gelungen. Die Stadt war für sie wie eine hübsche, großzügige Frau, bereit, sie an ihren weichen Busen zu drücken und die Nerven zu beruhigen, an denen die gnadenlosen Straßen New Yorks gezerrt hatten.
In Charleston waren die Stimmen langsamer, und in ihrem warmen, fließenden Strom konnte sie untertauchen. Sie konnte sich verstecken, so wie sie einst geglaubt hatte, sich im Menschengewühl des Nordens verbergen zu können.
Geld war kein Problem. Sie lebte sparsam und war immer bereit zu arbeiten. Sie hütete ihre Ersparnisse wie ein Falke, und als die Summe größer wurde, begann sie von einem eigenen Geschäft zu träumen. Sie wollte für sich selbst arbeiten und jenes ruhige, friedliche Leben führen, das ihr nie vergönnt gewesen war.
Sie blieb für sich. Echte Freundschaften bedeuteten auch echte Bindungen. Dem wollte sie sich noch nicht wieder aussetzen. Vielleicht war sie auch noch nicht stark genug dazu. Die Leute stellten Fragen. Sie wollten etwas über einen wissen, oder sie taten zumindest so.
Tory hatte keine Antworten zu geben und sie hatte nichts zu erzählen.
Sie fand ein kleines Haus - alt, heruntergekommen, perfekt - und verhandelte hart, um es kaufen zu können.
Die Leute unterschätzten Victoria Bodeen oft. Sie sahen eine junge Frau, klein und schmächtig. Sie sahen die weiche Haut und die zarten Gesichtszüge, einen ernsten Mund und klare graue Augen, die sie fälschlicherweise für arglos hielten. Eine kleine Nase, ganz leicht nach oben gebogen, verlieh dem Gesicht, das von glatten braunen Haaren umrahmt wurde, etwas Niedliches.
Die Leute sahen Zerbrechlichkeit und hörten sie auch in dem weichen südlichen Akzent ihrer Stimme. Aber die Härte in Tory sahen sie nie. Härte, gewachsen aus unzähligen Schlägen mit einem Sam-Browne-Gürtel.
Tory arbeitete für das, was sie wollte, und kämpfte mit aller Entschlossenheit darum. Sie hatte das alte Haus mit seinem zugewucherten Garten und der abblätternden Farbe gewollt, und sie hatte so lange darum gefeilscht und gehandelt, bis es ihr gehörte. Bei Wohnungen fiel ihr New York wieder ein und das Desaster, mit dem ihr Leben dort geendet hatte. Wohnungen kamen für Tory nicht mehr in- frage.
Sie hatte ihre Investition gepflegt und viel Zeit und Mühe auf die Renovierung des Hauses verwendet, immer ein Zimmer
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