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Lilien im Sommerwind

Lilien im Sommerwind

Titel: Lilien im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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obersten Brett im Schrank über dem Herd, hinter der Melasse und dem Maismehl.
    Ich sagte einfach, was ich in meinem Kopf sah, die viereckige Schachtel mit dem Wachsblock hinter der dunklen Flasche mit dem Sirup, und griff dann nach meinem kalten, süßen Tee, um die Reiskörner hinunterzuspülen.
    Bevor ich den ersten Schluck trinken konnte, hörte ich, wie das Schweigen wieder einkehrte, die stumme Welle, die selbst das monotone Summen der Ventilatoren übertönte. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und mein Kopf dröhnte vom angstvollen Rauschen meines Blutes.
    Ganz sanft, wie er es vor seinen Tobsuchtsanfällen immer tat, fragte Vater mich, woher weißt du, wo das Wachs ist, Victoria? Woher weißt du, dass es da oben steht, wo du es gar nicht sehen kannst? Wo du es nicht erreichen kannst?
    Ich log. Es war dumm, weil ich bereits dem Untergang geweiht war, aber die Lüge sprudelte als verzweifelte Verteidigung aus mir heraus. Ich sagte, ich hätte wahrscheinlich gesehen, wie Mama es dort hinstellte. Mir sei gerade eingefallen, dass ich gesehen hätte, wie sie es dort hinstellte.
    Er zerriss die Lüge in winzige Fetzen. Er hatte eine ganz bestimmte Art, Lügen zu durchschauen und sie in der Luft zu zerreißen. Wann wollte ich das gesehen haben? Warum ich denn nicht besser in der Schule sei, wenn ich so ein hervorragendes Gedächtnis hätte, dass ich noch ein Jahr nach der letzten Einmachzeit wüsste, wo das Paraffin war? Und woher wollte ich wissen, dass es hinter der Melasse und dem Maismehl stand und nicht davor oder daneben?
    Oh, er war ein kluger Mann, mein Vater, und ihm entging nicht das kleinste Detail.
    Mama sagte nichts, während er mit dieser sanften Stimme sprach und wie mit seidenumwickelten Fäusten mit den Wörtern auf mich einschlug. Sie faltete die Hände, und diese Hände zitterten. Zitterte sie um mich? Ich nehme an, mir gefiel der Gedanke. Aber sie sagte auch nichts, als seine Stimme lauter wurde, nichts, als er den Stuhl zurückschob. Nichts, als mir das Glas aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte. Eine Scherbe schnitt mir in den Knöchel, und in dem wachsenden Entsetzen verspürte ich auch diesen kleinen Schmerz.
    Vater prüfte es natürlich erst nach. Das tat er immer, wobei er sich einredete, dass das nur gerecht und richtig war. Als er den Schrank öffnete, die Flaschen beiseite schob und langsam die viereckige, blaue Schachtel mit dem Paraffin hinter der dunklen Melasse hervorholte, weinte ich. Damals hatte ich noch Tränen, weil ich noch Hoffnung hatte. Selbst als er mich hochzerrte, hatte ich die Hoffnung, dass die Strafe dieses Mal nur aus Gebeten bestehen würde, stundenlange Gebete, bis meine Knie taub wurden. Manchmal, zumindest manchmal in jenem Sommer, reichte ihm das aus.
    Hatte er mich nicht gewarnt, den Teufel nicht mehr einzulassen? Aber ich brachte immer wieder das Böse in dieses Haus und beschämte ihn vor Gott. Ich sagte, es täte mir Leid, ich hätte es nicht gewollt. Bitte, Daddy, bitte, ich werde es nie wieder tun. Ich werde brav sein.
    Ich flehte ihn an. Er schrie Bibelsprüche und zerrte mich mit seinen großen, harten Händen in mein Zimmer, und immer noch flehte ich ihn an. Es war das letzte Mal, dass ich es tat.
    Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Wenn man sich wehrte, wurde es noch schlimmer. Das vierte Gebot war heilig, man musste seinen Vater in seinem Haus ehren, auch wenn er einen blutig schlug.
    Sein Gesicht war hochrot vor Selbstgerechtigkeit, die so groß und blendend war wie die Sonne. Er schlug mir nur einmal ins Gesicht. Das brachte mich zum Verstummen. Und es tötete meine Hoffnung.
    Ich lag bäuchlings auf meinem Bett, wehrlos wie ein Opferlamm. Als er seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose zog, klang es wie das Zischen einer Schlange. Dann, als er ihn durch die Luft knallen ließ, gab es ein kurzes, scharfes, sausendes Geräusch.
    Er ließ ihn immer dreimal knallen. Die heilige Dreieinigkeit der Grausamkeit.
    Der erste Schlag ist immer der Schlimmste. Ganz gleich, wie oft es ein erstes Mal gibt, der Schock und der Schmerz sind qualvoll und dir entweicht ein Schrei. Dein Körper bäumt sich abwehrend auf. Nein, nicht abwehrend, eher ungläubig, und dann hageln der zweite und der dritte Schlag auf dich hernieder.
    Bald klingen deine Schreie mehr wie die eines Tieres als wie die eines Menschen. Deine Menschlichkeit ist untergegangen in einer Woge von Schmerz und Demütigung.
    Vater betete immer, während er mich schlug, und seine

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