Lilienblut
Flüstern der Blätter, die sich Geschichten vom toten Fluss zuwisperten.
Es war dunkel. Es war still. Es war ein trügerischer Frieden. Auch Beate musste ihn spüren. Obwohl sie immer wieder nervös zur Treppe schaute, ließ sie Sabrina diesen Moment des Abschieds von einer Illusion.
»Wie ist er denn so?«
»Kilian? Du stellst Fragen.« Sie tastete sich zur Bank und erwartete, eine Zeitung zur Seite schieben zu müssen, doch sie war frei. Sie setzte sich und hatte das Gefühl, in einen Zeittunnel geraten zu sein und alles noch einmal zu erleben. »Er hat blaue Augen, die älter aussehen, als er eigentlich ist. Er tötet einen Fisch mit einem einzigen Schlag, ohne mit der Wimper zu zucken. Er lächelt so gut wie nie, aber wenn er es macht, ist es so, als ob … als ob er dich wärmt damit.« Sie brach ab.
Beate seufzte. »Ich meinte eher, ob über einsachtzig, schlank, durchtrainiert und in der Lage ist, uns mit einer Hand über Bord zu werfen.«
»Könnte sein. Warum?«
»Weil er gerade an Bord kommt.«
Durch das dürre Schilf am Ufer leuchtete das Licht einer Taschenlampe. Der Strahl glitt über das Schiff, blitzte auch kurz in die Küche und heftete sich dann auf den Steg. Sabrina
duckte sich, aber es war ihr klar, dass es dazu zu spät war. Sie hörte, wie jemand über das Brett lief, verharrte und dann vorsichtig weiterging. Er hatte die Spuren entdeckt.
»Shit!« Beate ging weg von der Tür in die Küche. Aber die bot auch keine Deckung. Sie saßen in der Falle. »Ich hab doch gesagt, wir müssen hier weg!«
Das Licht seiner Lampe war eher da als er. Mit polternden Schritten kam er die Treppe herunter.
Wenigstens sind wir zu zweit, dachte Sabrina. Er wird uns nichts tun. Dann fiel ihr siedend heiß ein, dass sie die Tür zum Tatort offen gelassen hatten. Er würde mit einem Blick erkennen, dass sie alles wüssten. Alles.
Licht flammte auf. Sabrina kniff die Augen zusammen. Ein Schwall frische, kalte Luft drang in den Raum und mit ihm der Duft von Wasser, Wald und Moos. Er war da. Und er würde schrecklich wütend sein …
»Guten Abend.«
Es war seine Stimme, die Sabrina aus der eisigen Erstarrung erwachen ließ. Erneut spürte sie sie wie eine Berührung.
»Schon wieder Besuch. So eine Überraschung.«
»Guten Abend«, antwortete Beate. »Wir wollten eigentlich nur …«
Aber Kilian drängte sich an ihr vorbei auf Sabrina zu, die wie ein Häufchen Elend im Erdboden versunken war. »Du?«
Er sah schlecht aus. Er war dünner geworden und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er trug einen Anorak, Jeans und schwere, getalgte Schuhe. Die Taschenlampe, die er immer noch umklammert hielt wie eine Waffe, leuchtete ihr direkt ins Gesicht. Dann machte er sie aus.
»Und wer ist das da?« Er deutete auf Beate. Die hob hilflos die Arme, machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu.
»Sie ist meine Freundin«, sagte Sabrina. Beate schaute sie überrascht an. »Sie hat nichts damit zu tun. Sie wollte mich nur nicht allein lassen.«
»So.« Kilian legte die Lampe auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss seines Anoraks. Darunter trug er einen dick
gestrickten Seemannspullover. Er sah stark und verletzlich zugleich aus, eine Mischung, die Sabrina bisher noch nie bei einem Mann aufgefallen war und die sie in diesem Moment geradezu schachmatt setzte. Sie konnte nichts sagen, denn alles hätte in ihren Ohren einfach nur albern geklungen. »Und was gibt dir das Recht, schon wieder auf meinem Schiff herumzuschnüffeln?«
Beate warf ihr einen warnenden Blick zu.
Sabrina holte tief Luft. Es musste heraus. Jetzt. Sonst war alles umsonst. »Hast du … Hast du Amelie getötet?«
»Ob ich was?«
»Amelie. Du erinnerst dich doch noch an sie?«
Kilian starrte sie an, als hätte er ein Gespenst vor sich. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Er hatte schöne Hände, die nicht zu einem Schiffer passten. Eher zu einem Maler. Einem Pianisten. Einem Mann, der die Dinge behutsam anfasste, weil er wusste, dass manche sehr zerbrechlich waren.
»Wir haben im Sommer hier zusammen gesessen. Und dann kam sie noch mal zurück.«
»Ja.« Er ließ die Hände sinken und setzte sich. »Sie kam noch mal zurück.«
Er sah ihr in die Augen, und Sabrina vergaß, dass sie jemals in der Lage gewesen war, zusammenhängende Sätze zu formulieren. So lange war sein Gesicht nur in den groben Strichen einer Phantomzeichnung dagewesen. Nun saß er hier, keinen halben Meter von ihr
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