Lilienblut
Schublade wie ein Wolf um die Falle. Endlich entschloss sie sich, ein letztes Mal Amelies Orakel zu befragen. Danach, das schwor sie sich, würde sie nur noch ihre eigenen Entscheidungen treffen. Mit kalten Händen schlug sie das Tagebuch auf und las:
… verlass dich auf nichts, nichts anderes als dein Herz.
Unten hupte jemand. Wie ertappt klappte Sabrina das Buch zu und warf es in die Schublade. Sie lief zum Fenster und sah Lukas’ Wagen vor der Einfahrt stehen. Er sprang heraus und kam in großen Schritten durch den Hof auf das Haus zu. Plötzlich spürte Sabrina, dass sie sich freute, ihn zu sehen. Sie rannte die Stufen hinunter und erreichte die Haustür ein paar Sekunden vor Franziska. Sie riss die Tür auf und sah in Lukas’
überraschtes Gesicht, auf das sich plötzlich ein unsicheres Lächeln stahl. Er breitete die Arme aus und Sabrina flog hinein. Er war so stark, so gut, so beschützend. An seiner Seite konnte ihr gar nichts passieren. Sich zu entscheiden, war gar nicht so schwer, wenn man wusste, dass danach alle Ängste und Sorgen ausgestanden waren und ein Frieden kommen würde, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte.
»Ich dich auch«, flüsterte sie. »Ich dich auch.«
Zwei Wochen später, an Amelies Geburtstag, gingen sie gemeinsam zum Friedhof. Sabrina hatte einen kleinen Spaten, eine frostresistente Grünpflanze und eine Plastiktüte dabei. Lukas nahm ihr den Spaten ab und grub ein rundes, nicht sehr tiefes Loch in das spärlich bepflanzte Grab. Dann trat er erwartungsvoll zur Seite und staunte nicht schlecht, als Sabrina Amelies Tagebuch aus der Tüte holte. Sie legte es in die Kuhle, streute etwas Erde darüber und setzte die Pflanze darauf. Dann klopfte sie alles fest, stand auf und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachen.
Lukas räusperte sich. »Darf ich fragen …«
»Nein, darfst du nicht. Das ist eine Sache zwischen Amelie und mir.« Sie faltete die Hände. »Ich habe damals ihr Weihnachtsgeschenk vergessen.«
Sie schloss die Augen. Danke, dachte sie. Danke für deine Hilfe. Danke für deine Ehrlichkeit. Danke, dass du da warst und dass ich dich kennenlernen durfte. Du wirst immer in meinem Herzen sein, und ich werde mit dir reden, als ob du neben mir sitzen würdest. Ich werde dich nie vergessen. Aber ich glaube, ich bin jetzt so weit, dass ich meinen eigenen Weg gehen kann.
»Wir können«, sagte sie.
Gemeinsam, Arm in Arm, verließen sie den Friedhof.
Frühling
Der Köder tanzte auf dem Wasser. Ein buntes Ding, das aussah wie ein Spielzeug. Harmlos und selbstvergessen tänzelnd, doch für den, der sich davon anlocken und täuschen ließ, der Tod.
Er saß auf einer umgedrehten Kiste, den leeren Eimer neben sich, die Angel in der Hand, und ließ sich vom flirrenden Licht der Sonne über dem Wasser verführen. Einen Augenblick die Augen schließen, die erste Wärme auf den Wangen spüren, das leise Rascheln des Röhrichts im Rücken, über das ein sachter Wind fuhr, der die biegsamen Halme wie mit einer Riesenhand streichelte – Frieden. Er wollte nicht an das Morgen denken, sondern diesen Moment einfach festhalten.
Aus der Stille löste sich ein Geräusch. Kaum wahrnehmbar zunächst, dann wurde es lauter und störender. Ein Auto fuhr auf der Straße hinter dem Deich. In der Ferne konnte man die Kirchtürme erkennen, doch das Städtchen lag zu weit entfernt, um an einen harmlosen Ausflügler zu glauben. Wer sich dieser Stelle näherte, hatte ein Ziel.
Er richtete sich auf und nahm die Beine von der Reling. Seine Nerven virbrierten. Alles in ihm schlug Alarm. Das Auto stoppte, nahm Anlauf und arbeitete sich den Weg über die Böschung hoch. Erst als er den uralten Corsa erkannte, der sich wippend wie eine Schiffsschaukel auf der durchlöcherten Piste näherte, atmete er auf. Das Auto verschwand hinter dem Wald. Wenig später kam der Ranger mit weit ausholenden Schritten auf die Désirée zu.
Kilian legte den Steg über die Reling und wartete, bis der Besuch an Deck gekommen war.
Der Ranger klopfte ihm flüchtig auf die Schulter und sah sich um. »Bist du allein?«
»Was für eine Frage.«
»Lass uns runtergehen.«
Der Ranger kannte sich aus. Er stieg die Stufen als Erster hinunter und betrat die Küche. Ohne zu fragen, schob er einen Packen Zeitungen zur Seite und setzte sich. Er wartete, bis Kilian ihm gegenüber Platz genommen hatte. Dann holte er mehrere Geldscheine aus der Hosentasche und schob sie über den Tisch.
»Du kannst hier nicht
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