Lilienblut
gesteckt, standen wie aus dem Boden gewachsen seine beiden Freunde wieder da.
»Ärger mit der Alten?«, fragte der Kleinere und spuckte aus.
»Warum Lilly?«
»Lilly? Hat wohl mal einer so gesagt. Keine Ahnung.«
»Wer? Wo?«
Michi drehte seinen Kopf zu dem Beamten, der mit wenig Erfolg versuchte, eine Art geordneten Rückzug zu organisieren. Sabrina wunderte sich, warum er allein hier oben war und wieso ihm nicht jemand vom Boot aus zu Hilfe kam.
»Frag doch die Wasserschutzpolizei. Vielleicht stand sie ja auf Uniformen.«
»So ein Quatsch!«
Sie hatte Michi keine zwei Sekunden aus den Augen gelassen und er war verschwunden. Mit einem Fluch auf den Lippen versuchte Sabrina, von den Kaimauern wegzukommen. Das Feuerwerk lief gerade zur Höchstform auf. Bis zur Festung Ehrenbreitstein flackerte der Himmel in bunten Farben. Die fallenden Lichter veränderten die Schatten, sie wirbelten um sie herum, zuckten, wurden riesig, fielen in sich zusammen. Sabrina blieb hilflos stehen.
Plötzlich tauchte in der Menge ein Kopf auf.
»Beate!«, schrie Sabrina.
Doch ihre Stimme ging unter in ohrenbetäubendem Krachen.
»Beate!«
Dann spürte sie nur noch einen heftigen Stoß. Sie schrie, doch niemand hörte sie, niemand sah, wie sie die Balance verlor und hinunterfiel, in das nasse Schwarze mit den tausend tanzenden, bunten Lichtern.
SIEBENUNDZWANZIG
Etwas klirrte. Eine Schere auf einem Metalltablett vielleicht. Jedenfalls störte es beim Schlafen, genau wie das helle Licht. Sabrina blinzelte. Sie lag in einem weißen Zimmer. Mühsam richtete sie sich auf und stieß mit dem Kopf an einen Bügel. Sie lag in einem Krankenbett. Auf dem Nachttisch stand ein Strauß weißer Rosen. Am Fußende des Bettes lag ihr Schlafanzug. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ein Krankenhaushemd trug, das nur im Nacken mit einer Schleife zusammengehalten wurde. Ihr war unglaublich kalt. Vorsichtig schlug sie die Decke zurück und bemerkte erstaunt, dass ihre Hand zitterte.
Sie versuchte aufzustehen, aber sofort begann alles sich vor ihren Augen wie in einem Karussell zu drehen. Sie bemerkte den Klingelknopf an dem Bügel und drückte ihn. Wenig später kam eine fröhliche, junge Krankenschwester herein.
»Frau Doberstein? Das ist ja schön, dass Sie wach sind. Sie möchten sich bestimmt Ihre Sachen anziehen. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Sabrina klapperte vor Kälte mit den Zähnen. War hier denn nicht geheizt? Die Schwester trug einen dünnen Kittel und darunter ein weißes T-Shirt. Ihr schien überhaupt nicht kalt zu sein.
»Was ist denn passiert?«
»Sie sind Silvester ins Wasser gefallen. Ihr Freund ist Ihnen hinterhergesprungen und hat Sie in letzter Minute gerettet. Die Blumen sind von ihm.«
»Mein Freund?«
Sabrina schlüpfte in das Schlafanzugoberteil. Die Schwester half ihr mit der Hose, denn Sabrina schwankte immer noch, als wäre sie seekrank.
»Ein netter junger Mann. Aber auch ein bisschen anstrengend.
Jede Stunde ruft er an, um zu wissen, wie es Ihnen geht und ob Sie endlich aufgewacht sind. Keine Angst, Ihnen ist nichts passiert. Sie haben nur eine schwere Unterkühlung und sollten deshalb zur Beobachtung noch ein paar Tage bei uns bleiben.«
Sabrina nickte.
»Wollen Sie vielleicht etwas essen? Ich bin gleich wieder da.«
Die Schwester eilte hinaus. Sabrina deckte sich zu und versuchte, sich an Silvester zu erinnern. Wann war das? Wie lange war sie schon hier? Sie hatte mit Lukas und Beate gefeiert. Dann war Lukas’ Vater aufgekreuzt und sie hatten ihn nach Andernach gebracht. Der Hafen, die Ölfässer, die tanzenden Flammen und explodierenden Lichter am Himmel … Bildfetzen tauchten vor ihrem Auge auf, aber an den Rest des Abends konnte sie sich nicht erinnern. Sie hatte einen vollkommenen Blackout.
Die Schwester kam mit einem Tablett zurück. Ein Teller mit Spaghetti stand darauf und ein Nachtisch. Erst jetzt merkte Sabrina, wie hungrig sie war. Ihr Magen knurrte, als hätte sie seit Wochen nichts mehr gegessen.
»Welcher Tag ist heute?«
»Der erste Januar. Neujahr. Sie haben einfach nur sechzehn Stunden am Stück geschlafen. Schauen Sie, es wird bald wieder dunkel.«
Vor dem Fenster war es schon fast schwarz. Sabrina entdeckte ihre Armbanduhr in einem offenen Fach ihres Nachttisches. Wasser hatte sich unter dem beschlagenen Glas gesammelt. Sie war genau eine Minute nach Mitternacht stehengeblieben.
»Ihre Mutter wollte vorbeikommen. Soll ich sie anrufen?«
Sabrina nickte. Dann machte sie sich mit
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