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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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sie zu weit weg vom Schuss, sie hätten immer über den Gipfel klettern müssen. Dobersteins Jüngster war und blieb eine Plackerei.
    Langsam stieg Sabrina hoch. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, lag Leutesdorf noch ein Stück weiter unten. Ein paar Steine lösten sich und kollerten ins Tal. Genauso musste das damals passiert sein, als sie fast von den herunterfallenden Brocken getroffen worden war. Irgendjemand hatte sie hier oben losgetreten. Vielleicht ein verirrter Wanderer? Sie erreichte den Gipfel. Die Aussicht war atemberaubend. Unten glitzerte der Rhein, hier oben schien die Sonne, und der Himmel war weit und blau. Das enge Tal war ganz weit weg. Sabrina breitete die Arme aus und hatte einen Moment das Gefühl, fliegen zu können, einfach auf und davon, der Sonne folgen, nur dem eigenen Gefühl, vielleicht hinauf bis nach Rotterdam, oder hinunter bis Odessa … Sie ließ die Arme sinken, weil diese Träume plötzlich wehtaten, sie an jemanden erinnerten, den sie vergessen wollte, und trat einen Schritt zurück.
    Etwas knirschte unter ihren schweren Stiefeln. Sie war auf eine Brille getreten. Sie musste den ganzen Winter hier oben gelegen haben, so verdreckt war sie. Wahrscheinlich noch länger, denn sie sah nicht so aus, als würde sich heutzutage jemand damit noch auf die Straße trauen. Sabrina bückte sich, betrachtete sie genauer und rieb dann mit den Fingern den Schmutz vom Glas. Falsch. Sie war wie neu. Und sie sah richtig teuer aus. Auf der Innenseite des Hornbügels war der Name eines italienischen Designers eingelasert. Sabrina wusste, dass
solche Gestelle schnell ein paar hundert Euro kosteten. Wahrscheinlich vermisste sie jemand und hatte in einer der Touristeninformationen danach gefragt. Sie steckte sie ein und beschloss, sie bei der nächsten Gelegenheit abzugeben.
    Wenn sie den Wanderweg noch zwei Kilometer weiterlief, wäre sie an der Hütte. Sabrina erinnerte sich an ihren letzten Besuch im Herbst, wie sie das Fernrohr ihres Vaters hochgeschleppt und entdeckt hatte, dass abends auf der Werth jemand herumstromerte. Berti fiel ihr wieder ein. Die Polizei war zu dem Schluss gekommen, dass er ausgerutscht und in den Fluss gefallen sein musste. Die Wassertemperatur war so niedrig, dass man innerhalb kürzester Zeit das Bewusstsein verlor. Sabrina schauderte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn Lukas sie an Silvester nicht rechtzeitig gerettet hätte.
    Noch immer fehlte ihr jede Erinnerung an diese letzten Minuten des alten Jahres. Die würde wiederkommen, hatten ihr die Ärzte versichert. Sie wäre jung und robust, in diesem Alter steckte man das ohne Probleme weg. Und doch war ihr Verlustgefühl so real, als hätte sie ihr Portemonnaie ein zweites Mal verloren. Schlimmer noch, eine innere Stimme sagte ihr, dass die Lösung direkt vor ihren Augen lag. Sie musste nur hinsehen, erkennen, danach greifen, darüber stolpern, einmal mit den Fingern schnippen, und schon wäre alles wieder da. War sie ausgerutscht? Hatte sie jemand gestoßen? Absichtlich vielleicht? Oder war es wirklich nur ein blöder Unfall gewesen, wie er zu Dutzenden in dieser Nacht vorkam? Sich betrunken auf Zuggleise legen, mit Silvesterböllern spielen, kopfüber in den Rhein springen – die Möglichkeiten, sich auf dämliche Art und Weise aus dem Leben zu verabschieden, waren grenzenlos. Sie sollte dankbar sein, dass nichts Schlimmes passiert war und sie jemanden an ihrer Seite hatte, der auf sie achtgab.
    Gedankenverloren machte sie sich an den Abstieg. Es war so viel geschehen im letzten Jahr, da war der Winter mit seiner Ruhe eine richtige Zäsur gewesen. Sie hatte sich sehr zurückgezogen. Das lag nur zum Teil an der klirrenden Kälte,
die einen lieber mit einem heißen Tee zu Hause sitzen als vor die Tür gehen ließ. Es lag auch daran, dass sie manchmal daran dachte, wie schnell das Leben zu Ende sein konnte und wie wenig dann eigentlich davon übrig blieb.
    Jetzt aber, wo die Macht des Winters gebrochen schien und sich die Natur bereit machte, beim ersten warmen Tag zu explodieren, spürte auch Sabrina, dass ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Es war Zeit für den Weinberg. Zeit, dieses Leben zu spüren, das jedes Jahr aufs Neue hier oben und unten im Tal erwachte und irgendwie auch in den Menschen, die plötzlich freundlicher wurden, weniger anhatten und sich die Zeit nahmen, auf der Straße stehenzubleiben und miteinander zu reden.
    Sabrina warf einen letzten Blick hinauf zum Gipfel. Dieses Gefühl, fliegen zu

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