Lilienblut
wollen, das hatte sie lange nicht mehr gehabt. Das musste der Frühling sein, der einen ganz verrückt machte mit seinem lockenden Versprechen, dass alles, dieses Jahr, endlich anders werden würde. Ein Versprechen, dass dann spätestens vom Sommer, vom Herbst oder vom Winter gebrochen wurde. Nichts würde sich ändern. Fast fünfhundert Jahre Weinbaugeschichte wollten um ein weiteres Kapitel fortgeschrieben werden. Wenn nicht von ihr, dann von jemand anderem. So einfach war das.
»Und? Wie sieht es aus? Ist viel zu tun?«
Franziska Doberstein begutachtete im Anbau die Gerätschaften. Mehrere eingerissene Eimer hatte sie schon aussortiert. Gerade legte sie eine verkrustete Spitzschere zu den anderen in einen Korb. Sie würde sie in den nächsten Tagen zum Schleifen bringen. Ihre Arbeitskluft war frisch gewaschen und gebügelt – ein Luxus, den sie sich immer zum Saisonstart gönnte.
»Normale Härte.«
Sabrina betrachtete das Chaos um sie herum mit gemischten Gefühlen. Jeden Herbst nahmen sie sich vor, die Sachen nicht einfach wie Kraut und Rüben liegen zu lassen. Und jedes
Frühjahr stellten sie fest, dass die guten Vorsätze allein nicht reichten.
»Das Aufheften dürfte nicht so schlimm werden.« Franziska nahm den Korb und trug ihn vor die Tür. »Vielleicht leiht mir Salinger dieses Jahr seinen Rollfix.«
Die Neuanschaffung hatte schnell die Runde gemacht. Vor zwei Wochen war Sabrina zum ersten Mal bei einem Treffen der Winzer dabei gewesen. Ihr Erscheinen war wohlwollend zur Kenntnis genommen worden und der Stolz in Franziskas Augen war nicht zu übersehen gewesen.
Sabrina folgte ihr in den Hof. Über Leutesdorf lag die schläfrige Feiertagsruhe vor dem ersten Ansturm der Tagestouristen.
»Guten Morgen! Ihr seid ja früh wach!«
Michael stand in der Haustür. Er trug einen warmen Bademantel und sah trotzdem etwas verfroren und unausgeschlafen aus.
Franziska ging auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. »So ist das bei Winzern. Morgens früh raus, abends früh rein.«
Michael gab ihr einen Kuss. »Das habe ich aber von gestern etwas anders in Erinnerung.«
Beide verschwanden im Haus. Aus dem geöffneten Küchenfenster hörte Sabrina Geschirrklappern und Lachen. Es klang gut. Glücklich, um genau zu sein. Franziska hatte ihr Leben im Griff. Sie war genau da, wo sie sein wollte. Und sie hatte sogar noch jemanden gefunden, der das akzeptierte. Ob Michaels Elan den Sommer über anhalten würde, würde sich zeigen.
Und was war mit ihr, Sabrina? Sie sah auf ihre Armbanduhr. In zwei Stunden würde Lukas sie abholen. Sie wollten eine Tour auf den Hahnenberg machen, die erste in diesem noch so jungen Frühling. Die Flagge auf dem Gipfel war bereits gehisst, weithin konnte man das Andernacher Schwarz-Rot erkennen. Es war ein schöner Aufstieg und zur Belohnung wartete ein traumhafter Blick auf das Rheintal bis hin zum Westerwald. Das Café oben hatte geöffnet. Man konnte
sich auf die Terrasse setzen und die ersten Sonnenstrahlen genießen.
Klang gut. Klang schön. Klang nach Kaffeefahrt.
Sabrina seufzte. Irgendwie ging es nicht richtig voran mit ihnen. Vielleicht lag es daran, dass sie jedes Mal, wenn Lukas etwas von ihr wollte, einen Rückzieher machte. Sie waren jetzt drei Monate richtig zusammen. Verabredeten sich, gingen ins Kino, manchmal nach Neuwied zum Tanzen, er hatte sie offiziell seinen Eltern vorgestellt, und sogar Franziska fiel nichts ein, was sie gegen Lukas vorbringen konnte. Alles war so angenehm, ruhig, friedlich … Warum also sollte Das Eine nicht auch so sein? Woher ihre Ablehnung, die Ausreden, das Drumherumreden und -denken? Sie wurde siebzehn in diesem Jahr. Wahrscheinlich würde sie die einzige Siebzehnjährige weit und breit sein, die noch als Jungfrau herumlief.
Wie auf Bestellung klingelte ihr Handy, und die zweite Jungfrau war am Apparat.
»Hi«, meldete sich Beate. »Du bist schon wach?«
»Die Saison geht los.«
»Verstehe. Wenn ihr Hilfe braucht, ich hab Zeit.«
»Lieb von dir. Aber ich war nur mal kurz oben im Wein. Ich denke, in vier Wochen bekommst du Gelegenheit, dein Angebot zu bereuen.«
»Was machst du heute?«
»Ich gehe mit Lukas auf den Hahnenberg.«
»Dann kommt doch danach bei mir vorbei. Liegt fast auf dem Weg. Ich langweile mich zu Tode und Opa hat eine Erkältung. Das macht ihn noch unausstehlicher.«
Sabrina lachte. »Klingt nach einem richtig spannenden Tag. Okay. Ich frage Lukas mal.«
Wieder das winzige Zögern am anderen Ende der
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