Lilienblut
nicht mehr helfen.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand würde sich neben sie setzen. Erschrocken sah sie hoch. Der Platz war frei. Außer ihr waren nur noch eine Hand voll Leute im Bus und die saßen schon seit Andernach an derselben Stelle. Halluzinierte sie schon? Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Amelie, dachte sie. Bist du noch da oder hast du uns ganz und gar verlassen? Willst du, dass ich weitermache? Ich bin so mutlos. Ich bin allein. Ich bin traurig, weil ich nicht weiß, was ich will, und jemanden damit sehr verletzt habe. Ich suche meinen Weg und finde ihn nicht. Amelie, ich wollte fliegen heute Morgen und dann habe ich mir sogar den Gedanken daran verboten. Und jedes Mal, wenn ich in meinem Kopf ein Wort mit K benutze, zucke ich zusammen, weil ich Angst habe, dass aus diesem Buchstaben ein Name wird. Ein Name, den ich nicht vergessen kann. Was ist bloß passiert mit mir?
Ein leichter, kaum spürbarer Hauch streifte ihr Gesicht. Sabrina spürte ein Kribbeln, wie von einem Vorübergehenden, der sie mit der zarten Spitze eines Seidentuchs unabsichtlich berührte. Sie blinzelte. Gerade bog der Bus auf den großen Parkplatz am Rheinufer von Leutesdorf ein. Er war nun voll besetzt, nur der eine Platz neben ihr war immer noch frei. Sie fröstelte, weil es bis eben warm gewesen war. Als ob jemand neben ihr gesessen hätte, der gerade aufgestanden und gegangen war.
NEUNUNDZWANZIG
Sebastian, Sabrinas Banknachbar, war mittlerweile zahm und zutraulich geworden. Nachdem Sabrina wochenlang mit sanfter Stimme jeden Morgen einen aufmunternden Gruß gemurmelt hatte, war es ihm nach den Winterferien tatsächlich gelungen, wieder den Mund aufzumachen.
»Dein Stuhl steht auf meiner Jacke.«
Damit hatte sich sein Redeschwall erst mal wieder erschöpft, aber immerhin nickte er ihr jetzt öfters zu. Sabrina nahm das als gutes Zeichen, dass man manchen Dingen einfach Zeit geben musste. Im letzten Sommer war sie zornig und ungeduldig gewesen und hatte eine Menge Fehler gemacht. Sie würde jetzt vorsichtiger sein und vor allem darauf achten, niemanden mehr ins Vertrauen zu ziehen. Doch das war leichter gesagt als getan, denn Beate war so wie immer, als sie am nächsten Tag in der Pause auf sie zukam und fragte, ob sie mit ihr zum Mittagessen gehen würde.
»Ich habe keine Zeit«, redete sich Sabrina heraus. »Schularbeiten, und dann geht es am Rosenberg los.«
»Hat sich da mittlerweile mit der Bahntrasse was getan?«
Sabrina schlenderte zu einer Bank, die in der Sonne stand. Im Schatten war es immer noch empfindlich kalt. »Wir warten aufs Gutachten.«
»Ich könnte ja mal meine Kontakte spielen lassen und Janine treffen.«
Sabrina musste lachen, ohne dass sie es wollte. »So weit würdest du gehen?«
Und Beate machte es ihr noch schwerer, Distanz zu wahren. Zwei Wochen später stand sie frühmorgens vor der Haustür und eröffnete einer entgeisterten Franziska, dass sie mit in den Weinberg wollte. Sabrina beschloss, ihr Misstrauen erst einmal
in eine hintere Ecke ihres Herzens zu verbannen. Miteinander zu arbeiten war immerhin etwas anderes als sich gegenseitig die größten Geheimnisse zu erzählen.
»Hat Lukas sich mal gemeldet?«, fragte Beate während des komplizierten Versuchs, sich mit der Drahtschere nicht die Finger zu amputieren.
»Nein. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Sabrina dachte einen Moment nach. »Er hat mal erzählt, dass er eine Menge fürs Studium tun muss. Er hat in Koblenz eine kleine Studentenbude, wahrscheinlich ist er da erst mal hin.«
»Komisch.«
»Was ist komisch?«
Beate brachte es gerade zustande, den Draht derart zu verknoten, dass man die ganze Spule wegwerfen konnte.
»Ich hab gehört, er hängt in den Kneipen rum und lässt sich volllaufen. Wie ist das eigentlich mit Winzern und Alkohol? Seid ihr alle irgendwie gefährdet?«
»Nicht mehr und nicht weniger als andere auch. Wein ist ein Kulturgut. Zumindest der, den wir anbauen. Man genießt ihn, aber man besäuft sich nicht. Das ist in etwa der Unterschied zwischen der ›Rheinkrone‹ und einer Hamburgerbude. Bei dem einen genießt man, bei dem anderen stopft man wild alles in sich hinein.«
»Gut, dass du’s sagst. Ich esse Hamburger zwischendurch nämlich ganz gerne.«
Es klang ein bisschen angepiekt. Vielleicht spürte Beate, dass Sabrina nicht mehr ganz so unbefangen war. Sogar bei einer harmlosen Unterhaltung.
Ein Kleinbus hielt auf dem Schotterweg zu den Weinbergen. Die Seitentür öffnete
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