Lilienblut
erschrak. Bis zu den Knien war ihre Hose mit der roten, eisenhaltigen Erde des Naturschutzgebietes verschmutzt. Das Oberteil war am linken Ärmel eingerissen.
Franziska hob die Hand und entfernte ein kleines Ästchen aus Sabrinas Haar. »Wo warst du?«
Die Frage klang nach einem Verhör. Sabrina schlug die Augen nieder.
»Warst du auf der Namedyer Werth?«
»Und wenn schon.«
»Nachts?« Franziskas Blick fiel auf die rote Erdkruste an Sabrinas Schuhen, die gerade zu trocknen begann. »Was hast du da zu suchen? Warst du mit Amelie dort?«
Sabrina zuckte mit den Schultern, was alles und nichts heißen konnte. Ihre Mutter kniff die Augen zusammen und musterte sie mit einem versteinerten Gesichtsausdruck, bei dem sich Sabrina offenbar wieder wie ein kleines Mädchen fühlen sollte. Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Wenn sie jemals vorgehabt hatte, von diesem Ausflug zu erzählen – spätestens in diesem Moment schwor sie sich, dass niemals ein Wort zu diesem Thema über ihre Lippen käme.
»Ich will nicht, dass du dorthin gehst.«
»Und warum nicht? Da laufen Hunderte jeden Tag hin, um den Geysir zu sehen.«
»Richtig. Jeden Tag . Aber nicht nachts. Das ist verboten. Ich will nicht, dass du etwas Verbotenes tust. Hast du mich verstanden?«
Sabrina sah an ihr vorbei und sagte kein Wort.
»Ob du mich verstanden hast?«
»Ja«, knirschte sie. »Darf ich jetzt Zähne putzen, ins Bett gehen und mein Nachtgebet sagen?«
Ihre Mutter öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber anders und ging auf Sabrinas spöttische Begegnung nicht weiter ein.
»Gute Nacht«, sagte sie nur.
Auf dem Weg nach oben schien Sabrina, dass ihre Mutter noch etwas anderes hatte sagen wollen. Etwas, dass mit dem toten Fluss zu tun hatte, und damit, warum es verboten war, sich dort nachts herumzutreiben. Wieder berührte sie dieses unangenehme Gefühl, das sie jedes Mal beim Gedanken an diesen Namen beschlich. Doch schon beim Zähneputzen hatte sie es vergessen.
Sie beschloss, diesen Tag nicht wie sonst im Bett noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen. Sie wollte ihn einfach vergessen. Doch als sie die Augen geschlossen hatte, tauchte immer wieder ein Bild vor ihr auf: ein junger, müder Kämpfer, der in eine Aprikose biss und sie dabei ansah. Sie und nicht Amelie.
Sabrina hatte es nicht anders erwartet: Am nächsten Morgen um sieben war die Nacht vorbei. Franziska rumorte im Bad, wenig später kroch der Kaffeeduft die Treppe hinauf, und um halb acht saßen sie sich am Frühstückstisch gegenüber und beugten sich stumm über die aufgeteilte Zeitung. Der Streit vom Vorabend schwelte immer noch. Die Stimmung wurde auch nicht besser, als sie zusammen zum Weinberg gingen und Franziska ihrer Tochter die Reihen zuteilte, mit denen sie an diesem Tag fertig werden sollte.
Sabrina stöhnte. Sie schwitzte in den Arbeitshandschuhen, der Arm tat ihr weh, und die Sonne stach unbarmherzig vom Himmel. Mit der Zange knipste sie die kleineren Blütenstände weg, aus denen sich bereits winzige Fruchtstände entwickelt hatten, und ließ nur die kräftigen stehen. Das erhöhte die Qualität der restlichen Trauben, weil die Nährstoffe aus dem Boden nun in weniger Früchte stiegen. Das Geheimnis war, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig abzuschneiden. Die goldene Mitte lag irgendwo zwischen einem Drittel und der Hälfte dessen, was ein Weinstock trug. Wenn das Ausdünnen korrekt vorgenommen wurde, konnte der Most dadurch bis zu zehn Grad Öchsle mehr haben – das entscheidende Gewicht, das aus einem normalen Riesling einen Kabinett machen konnte.
Sabrina stand auf. Es war eine schwere Arbeit. Sie konnte froh sein, dass sie nicht einzelne Trauben ausdünnen musste. Das stand vom Aufwand her in keinem Verhältnis mehr zum Ertrag. Der Rücken tat ihr weh, sie streckte sich und dehnte ihre beanspruchten Muskeln. Weiter unten arbeitete Franziska. Hinten auf Kreutzfelders Berg erkannte sie die krummen Rücken einiger älterer Frauen – Polinnen, die jedes Jahr kamen,
kaum ein Wort sprachen und von denen keiner wusste, wohin sie abends gingen, wenn alle schon Feierabend gemacht hatten. Von denen es keiner wissen wollte, verbesserte sich Sabrina in Gedanken. Sie hatte ein schlechtes Gewissen den Frauen gegenüber, die so hart arbeiteten und auch morgens in aller Herrgottsfrühe schon damit anfingen.
Sabrina nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Weit unten glitzerte das silberne Band des Rheins im Sonnenlicht. Sie erkannte einige
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