Lilienblut
Geisterschiff. Lass uns von hier verschwinden.«
»Nein.«
Amelie ging auf die Luke zu. Entsetzt musste Sabrina mit ansehen, wie sie vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die schmale Stiege setzte und nach unten kletterte. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Freundin tatsächlich vorhatte, auf einem fremden, verlassenen Schiff herumzustromern. Es war unheimlich hier. Die Wipfel der Bäume und der steile Abhang des Felsens tauchten den Fluss in schattiges, grünes Dämmerlicht. Plötzlich kam es ihr wieder vor, als ob sie jemand beobachten würde. Mit klopfendem Herzen starrte Sabrina in den Wald, der wie eine Wand vor ihr aufragte. Waren da nicht Schritte zu hören? Ein leises Rascheln im Laub, so als ob jemand schnell hinter einem der Stämme verschwände?
»Ks-ksss.«
Sabrina fuhr zusammen.
Amelies Lockenkopf tauchte wieder aus der Luke auf. »Nun komm schon!«, rief Amelie leise.
Sabrina schlich auf sie zu. Sie war froh, ihre Sneaker zu tragen, mit denen sie sich fast geräuschlos bewegen konnte. Die Stiege war aus Holz und ziemlich eng. Schon auf der Mitte stach ihr ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Moder. Brackwasser. Und etwas anderes, das sie nicht definieren konnte. Ein Hauch von … Lilie. Totenblumen.
Ihre Augen mussten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Sie standen in einer kleinen Küche, in der das absolute
Chaos herrschte. Leere Teller stapelten sich ungespült im Abwaschbecken. Der Tisch war bedeckt mit alten Zeitungen, Vorratsdosen und halb aufgerissenen Verpackungen. Ein Glas lag umgekippt daneben, ein gelblicher Fleck trocknete auf der Tischplatte. Amelie starrte mit weit aufgerissenen Augen auf einen überquellenden Mülleimer. So hatte sie sich die Heimstatt ihres Traumprinzen wohl nicht vorgestellt.
Ein Geräusch ließ die Mädchen zusammenfahren. Jemand kam an Bord.
»Oh Scheiße!«, flüsterte Amelie. Hektisch sah sie sich um. Doch es war zu spät – und der Fußboden zu dreckig, wie Sabrina mit einem Blick bemerkte -, um noch unter den Tisch zu kriechen. Schwere Schritte näherten sich über ihnen, dann stieg jemand die Treppe hinunter. Erst kamen nasse Anglerstiefel ins Blickfeld, dann eine ausgewaschene Arbeitshose, dann ein Wassereimer, dann zwei muskulöse, braun gebrannte Arme, ein T-Shirt und dann – Sabrina wäre am liebsten im Ausguss verschwunden, wenn der nicht auch einen verstopften Eindruck gemacht hätte – der Rest des Unbekannten vom Marktplatz.
Er blieb stehen und sagte kein Wort. Er sah noch besser aus, als Sabrina ihn in Erinnerung hatte. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, stellte sie fest, dass er ungefähr Anfang zwanzig sein musste, auch wenn seine Augen älter aussahen und finsterer.
»Besuch?«, sagte er nur.
Er schob sich an den beiden verschreckten Mädchen vorbei in die Küche und stellte den Eimer auf den letzten freien Platz neben der Spüle. Das Wasser spritzte auf, eine Sekunde sah Sabrina einen schwarzen Schatten hinter dem weißen Plastik. Er hatte einen Fisch gefangen. Jetzt zog er ein Messer aus einer Lederscheide an seinem Gürtel und legte es neben dem Eimer ab.
Sabrina und Amelie wechselten einen kurzen Blick. Offenbar hatte er nicht vor, sich auf sie zu stürzen. Amelie fuhr sich nervös durch die Haare in der Hoffnung, die Situation etwas zu entschärfen.
»Wir … Uns ist das Schiff aufgefallen. Da wollten wir mal nachsehen, wer sich hier so versteckt.«
Das letzte Wort ließ ihn herumfahren. Sabrina zuckte zusammen. Er hatte keinen Deut bessere Laune, im Gegenteil. Er funkelte Amelie wütend an. »Verstecken? Wer sagt das?«
»Nun, es sieht jedenfalls so aus.« Amelie schien sich gefasst zu haben. Sie zog einen alterschwachen Schemel unter dem Tisch hervor und setzte sich darauf. Dabei schlug sie die Beine übereinander und strich den Stoff über ihren Knien glatt.
Sabrina stand noch immer am selben Fleck und konnte sich nicht rühren.
»Ich kenne euch.« Der Mann griff in das Regal über der Spüle und holte eine Büchse Ravioli heraus. Offenbar war er kein Gourmet. Die französische Aprikose musste reiner Zufall gewesen sein. »Ihr habt mich auf dem Markt angestarrt. Stimmt’s?«
Sabrina spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Genau das hatte sie befürchtet. Am liebsten wäre sie die Stiege hochgerannt und ins Wasser gesprungen. Amelie hingegen schien es gar nichts auszumachen, dass der Mann sich von ihnen gestört fühlte.
»Naja, ange starrt ist vielleicht das falsche Wort«, sagte sie und schenkte ihm ein
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