Lilienblut
sagte Amelie, als sie außer Hör- und Sichtweite kamen. »Ich will einfach nur Guten Tag sagen und wissen, was er da so treibt.«
Sie erreichten den Zaun und die Stelle mit dem hochgebogenen Draht.
»Du weißt, dass es sogar verboten ist, zu Fuß im Naturschutzgebiet herumzulaufen. Und er prescht einfach mit einem
Lastkahn durch. Wahrscheinlich hat der Ranger ihn schon entdeckt und er ist weg.«
Das also war der Grund für Amelies Eile. Sie hatte Angst, zu spät zu kommen. Sabrina musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Ihr Trampelpfad war nicht mehr zu erkennen, sie mussten sich erneut durch die meterhohen Brennnesseln schlagen. Aber Amelie schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil, sie schlängelte sich durch das Dickicht, als wäre sie in der Wildnis groß geworden. Bei Tag war der Wald nicht halb so beängstigend wie bei Nacht. Fast schämte sich Sabrina ein bisschen, als sie an die Stelle mit dem umgefallenen Baum kam und an den Fuchs dachte, der sie so erschreckt hatte.
Im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch schlich sich Amelie dieses Mal nicht an. Ihr schien es egal zu sein, ob sie jemand hören konnte. Einen Moment war Sabrina unachtsam und die Rute einer Brennnessel traf sie voll am Oberarm. Sie biss die Zähne zusammen, um den feurigen Schmerz zu ignorieren, und lief noch schneller. Amelie war schon fast am Ufer.
Keuchend erreichte sie ihre Freundin und blieb neben ihr stehen. Der Lastkahn lag noch dort. Nur von seinem Besitzer war weit und breit nichts zu sehen.
» Désirée «, las Amelie. »Was heißt das?«
Der Name des Schiffes stand in weißen Lettern auf dem Rumpf. Jemand hatte ihn mit Hand geschrieben, denn die Farbe war an einigen Stellen herabgetropft und hatte weiße Rinnsale auf der rostigen Außenhaut des Schiffes hinterlassen.
»Sehnsucht«, flüsterte Sabrina. »Der Name bedeutet Sehnsucht.« Sie sah sich um. Alles war still. Doch plötzlich kam es ihr vor, als hätte der Wald tausend Augen.
»Sehnsucht«, wiederholte Amelie verträumt. »Was für ein schöner Name für ein Schiff.«
Dann lief sie die steile Böschung hinunter, noch bevor Sabrina sie aufhalten konnte. Wohl oder übel musste Sabrina ihr folgen. Sie bemerkte mit einem Blick, dass kein Steg vorhanden
war. Also musste der Besitzer an Bord sein. Amelie war das wohl auch aufgefallen, denn sie stand ratlos bis zu den Knöcheln im Wasser und sah die Bordwand hoch.
»Da!«
Eine rostige Eisenleiter hing am Bug. Amelie stapfte durch die braune Brühe, in der die Blätter der letzten Jahrzehnte vermoderten.
»Was hast du vor?«, fragte Sabrina.
»Ich will mir das Ding mal ansehen.«
Augenblicklich war auch Sabrina im Wasser und watete ihrer Freundin hinterher.
»Bist du verrückt geworden?«, zischte sie. »Das ist Hausfriedensbruch!«
»Und was ist das hier? Naturschutzgebiet. Und mitten drin ein rostiger Kahn, aus dem am Ende noch das Motoröl ausläuft. Es ist …« – sie griff nach der untersten Stufe der Leiter und zog sich hoch – »geradezu meine staatsbürgerliche Pflicht, hier nach dem Rechten zu sehen.«
Wohl oder übel musste Sabrina ihr folgen, wenn sie nicht bis zu den Knien im Matsch stehen bleiben wollte. Vorsichtig sah sie sich noch einmal um. Der Seitenarm machte einen Knick nach rechts und mündete dann, ein paar Hundert Meter weiter, in den Rhein. Auch wenn Wanderer zum Geysir unterwegs sein würden, bis hierhin würde keiner vordringen. Es war das perfekte Versteck für einen Lastkahn. Und genau das machte Sabrina misstrauisch. Warum wollte sich jemand mit einem Schiff verstecken?
Amelies Gesicht erschien über der rostigen Reling. »Wo bleibst du? Kommst du mit oder willst du unten warten?«
»Ich komme.«
Sie kletterte hoch. Amelie half ihr über das Geländer. Ein bisschen außer Atem blieb Sabrina stehen und schüttelte ihre Füße, bis das Wasser aus ihren Turnschuhen abgeflossen war.
Das Schiff sah aus, als lägen seine besten Tage schon lange hinter ihm. Der dunkle Anstrich blätterte ab, Rost nagte darunter und warf löchrige Blasen, die wie grausame Pockennarben
aussahen. Vor ihnen lag der verlassene Führerstand, ein niedriger Aufbau mit vor Schmutz fast blinden Fenstern. Daneben gähnte eine schwarze Luke, an ihr lehnte eine Eisenplatte. Plötzlich ertönte ein schauerlicher Ton. Sabrina fuhr zusammen.
»Das ist das Eisen«, flüsterte Amelie. »Das verzieht sich irgendwie.«
»Es hört sich schrecklich an.« Sabrina hatte Mühe, nicht zu zittern. »Das ist ein
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