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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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musste erst vor Kurzem etwas Großes gefahren sein, sonst wären die Zweige und das Ufer nicht so in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie hätte auch selbst darauf kommen können, dass es ein Schiff gewesen sein könnte. Aber anders als Amelie hatte sie ja nicht den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht, wie und wo sie den Unbekannten wiedertreffen könnte.
    Sie spürte einen Stich. Sie wusste nicht, ob es die Aufregung war oder Eifersucht. Noch nie waren sie sich wegen eines Flirts ins Gehege gekommen.
    Weil du noch nie geflirtet hast, dachte Sabrina. Und weil du es auch nie, niemals tun wirst. Der eine Blick heute hatte gereicht. Sabrina war deswegen schon ein Dutzend Mal nachträglich beinahe im Erdboden versunken.
    Jemand legte die Hand auf ihre Schulter. Zu Tode erschrocken fuhr sie zusammen.
    »Schschsch.« Amelie hielt sie fest und lugte an ihr vorbei in den Wald. Die Bäume lichteten sich und etwas Dunkles blinkte geheimnisvoll durch die Blätter. Der tote Fluss . Sabrina schluckte. Schon auf dem Boot hatte sie ein flaues Gefühl gehabt, als sie an ihn gedacht hatte. In diesem Moment hätte sie eine Menge dafür gegeben, einfach kehrtmachen zu können.
    »Da ist er«, sagte Amelie leise. »Wir sind genau am Ende des Flussarms. Wenn wir uns ein bisschen weiter rechts halten, kommen wir in der Mitte raus. Da müsste er liegen.«
    »Warum heißt er eigentlich der tote Fluss?«
    Amelie zuckte leichthin mit den Schultern. »Hier ist mal
ein Mord passiert, glaube ich. Ist aber schon ein paar Jahre her. Ich war selber noch fast ein Kind.«
    Da das Unterholz sich allmählich lichtete und sie das Brennnesselfeld hinter sich gelassen hatten, schlüpfte Amelie an Sabrina vorbei und übernahm die Führung. Sabrina folgte ihr, nicht gerade leichten Herzens. Ein Mord. Und Amelie redete darüber, als ob es das Normalste der Welt wäre, hier nachts spazieren zu gehen.
    »Wer ist denn … ermordet worden?«
    »Weiß ich nicht mehr. Muss aber gruselig gewesen sein. Ich muss schon sagen: Wer sich hier versteckt, der hat Mut.«
    Und wer hier nachts herumläuft, ist wahnsinnig, vervollständigte Sabrina den Gedanken. »Ich will nach Hause.«
    Amelie blieb stehen und sah sich nach ihr um. »Nicht jetzt. Wir sind doch fast da.«
    »Das ist unheimlich hier.«
    Als ob der Wald diesen Eindruck noch verstärken wollte, knarrten zwei uralte Bäume direkt neben ihnen. Der eine war von einem Unwetter entwurzelt worden. Er war halb umgekippt und rieb seinen Stamm an einer gewaltigen Kastanie, die unter seinem Gewicht ächzte und stöhnte.
    »Wir verschwinden ja gleich. Lass uns doch nur mal gucken. Dann können wir morgen noch mal herkommen.«
    »Ich will nicht.«
    »Dann gehe ich morgen eben allein. Mach dir keine Sorgen. Das ist Wald und Natur. Das einzig Gewalttätige darin ist immer nur der Mensch.«
    »Genau das meine ich ja!«
    Amelie stemmte die Hände in die Hüften. Noch immer redeten sie im Flüsterton miteinander. »Es ist nicht mehr weit. Da hinten ist doch schon das Wasser. Wir schleichen eigentlich nur dran vorbei und dann nach rechts zum Rheinufer. In zehn Minuten sind wir wieder an den Krippen. Ich schwör’s.«
    Sabrina seufzte. Amelie ging geduckt weiter, vorsichtig darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu machen. Sabrina folgte ihr. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst, den
einzigen Menschen aus den Augen zu verlieren, der sie hier noch herausbringen konnte. Sie war so konzentriert darauf, nach unten zu sehen und nicht zu stolpern, dass sie Amelies leises Zischen erst gar nicht richtig wahrnahm.
    »Pssst!«
    Sie stand hinter einer dicken Kastanie. Das Ufer fiel steil, aber nicht tief ab. Vor ihnen lag der stille Flussarm, gleich dahinter erhob sich wieder dichter, dunkler Wald, der den Abhang des Berges bedeckte. Im Wasser lag ein Schiff. Es war groß, bestimmt dreißig Meter lang und acht Meter breit. Es war mit dem Heck voran an diese Stelle geglitten. Am Bug erkannte Sabrina den Aufbau des Steuerhauses und in der Mitte ein tiefes, gähnend schwarzes Loch: den leeren Laderaum.
    »Ein altes Lastschiff«, flüsterte Amelie. Plötzlich streckte sie die Hand aus. »Da!«
    Ein Mann stand reglos am Bug und starrte ins Wasser. In der Hand hielt er eine Angel. Bei seinem Anblick machte Sabrinas Herz einen Sprung, bevor es ihr in die Kniekehlen rutschte. Er war es. In der Dunkelheit sah seine Silhouette aus wie der Scherenschnitt eines müden Kämpfers. Man konnte die Kraft ahnen, die in seiner schlanken, hoch

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