Lilienblut
gewachsenen Gestalt steckte; doch in diesem Moment, in dem er sich unbeobachtet fühlen musste, wirkte er wie jemand, der zu lange nicht geschlafen hatte.
Er hob die Angel und warf sie wieder aus. Dabei streckte sich sein Körper zu einem eleganten Bogen, bevor er die Arme wieder sinken ließ. Der Köder landete mit einem leisen Ploppen im Wasser.
Sabrina hatte nur einen einzigen Wunsch: so schnell wie möglich zu verschwinden. Wenn er sie hier oben bemerken würde? Sie würde vor Scham im Erdboden versinken. Sie tippte Amelie auf die Schulter, doch die machte nur eine unwillige Handbewegung. Der Mann da unten schien auch sie zu faszinieren. Amelie sah aus, als würde sie gleich wie in Trance das Ufer hinunter auf ihn zu laufen.
»Lass uns gehen«, flüsterte Sabrina.
Amelie war immer noch ganz versunken. »Noch nicht.«
»Doch. Wir kommen bei Tag wieder. Dann müssen wir uns auch nicht anschleichen.«
Plötzlich drehte sich der Mann um. Seine Augen suchten die hohe Uferböschung ab. Vielleicht hatte er etwas gehört. Vielleicht ahnte er auch nur, dass jemand ihn beobachtete.
»Lass uns verschwinden!«, bettelte Sabrina. »Wenn er uns hier sieht, ist das nur peinlich.«
Amelie reagierte nicht.
»Schrecklich peinlich!«
Amelie schaute den Mann immer noch unverwandt an.
»Tot-tot-peinlich! Er wird uns auslachen!«
»Du hast recht.« Amelie seufzte, als hätte man einen Eisbecher an ihrer Nase vorbeigetragen.
Der Mann steckte die Angel an der Bordwand fest. Er lief nach steuerbord, zum Ufer, und sah prüfend hinauf, zu ihnen, direkt in ihre Richtung. Ohne zu überlegen, drehte Sabrina sich um, schnappte Amelies Handgelenk und zog sie zurück in den Wald. Sie rannten, als wären Teufel hinter ihnen her. Erst nach ein paar Minuten hielten sie an, um sich zu orientieren und mit klopfendem Herzen zu lauschen, ob ihnen jemand folgte.
Die Wipfel rauschten wie sanfter Sommerregen. Ein Waldkauz stieß einen jämmerlich klagenden Ton aus. Von weit her knarrte ein Baum. Über die B9 fuhr ein Wagen mit ziemlich hohem Tempo. Sonst war es still.
Amelie begann zu kichern. Sie legte ihren Arm um Sabrinas Schultern, und gemeinsam stapften sie durch das Unterholz, bis die Stämme sich lichteten und die Luft feuchter wurde. Wenig später erreichten sie Krippe 8. Der Badeplatz lag wie ausgestorben da. Auf der anderen Seite des Rheins konnte Sabrina das Licht in den Fenstern der Häuser sehen. Sie warf einen Blick auf die phosphoreszierenden Zeiger ihrer Armbanduhr. Halb elf.
Sie stöhnte auf. »Oh Mann. Ich muss den Bus nach Neuwied kriegen.«
»Wann?«
»In zehn Minuten.«
Sie rannten los. Die Uferpromenade zog sich endlos hin. Viel zu spät erreichten sie die ersten Hotels und das steinerne Stadttor mit seinen beiden behäbigen, dickbauchigen Türmen. Sabrina hatte keinen Blick für die Blumenrabatte und die Fähren, die am Ufer vertäut auf das Wochenende und die Touristen warteten. Mit keuchendem Atem ließen sie die Altstadt hinter sich und erreichten die Haltestelle gegenüber vom Hafentor in letzter Sekunde. Der Bus wartete bereits mit laufendem Motor und Sabrina suchte hektisch in ihrer Umhängetasche nach Kleingeld.
Da fragte Amelie: »Glaubst du eigentlich an Liebe auf den ersten Blick?«
Der Busfahrer winkte ungeduldig. Sabrina stieg die Stufen hoch und wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Nei … nein«, stammelte sie. Es fehlten ihr zwanzig Cent. Unter dem Zischen der Druckluft schlossen sich die Türen. Sabrina fand das Restgeld, bekam ihr Ticket und lief durch die fast leeren Reihen bis ganz nach hinten. Das Kippfenster war offen. Amelie winkte ihr zu und strahlte sie an.
»Aber ich!«, rief sie.
SIEBEN
Liebe auf den ersten Blick.
Sabrina hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Das Herzklopfen vielleicht und die schweißnassen Hände, als Leon sie damals gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte? Die Küsse, das Anfassen, das Hand-in-Hand-Gehen, die Frage schließlich, die sie so gefürchtet hatte: »Willst du mir mir schlafen?« Die Panik, der Druck, unter dem sie plötzlich stand – alle hatten schon, hieß es, nur sie noch nicht … Nein, Liebe war das nicht gewesen. Dann schon eher die Schwärmerei für unerreichbare Götter: Konrad, der zwei Klassen über ihr gewesen war. Oder der Schlagzeuger einer Band aus London, über den sie eine Zeit lang alles gesammelt hatte, was sie in die Finger kriegen konnte.
Aber auch das war etwas anderes. Es war nicht das, was sie sich unter Liebe
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