Lilienblut
Süden. Und ich glaube, Amelie wollte mit.«
»Sie wollte abhauen. Aber warum denn mit jemandem, den sie gar nicht kennt?«
Sabrina hob die Schultern und sagte nichts.
»Wie hieß das Schiff? Hatte es einen Namen?«
»Désirée. Sehnsucht.«
Die Polizistin lächelte und machte zum ersten Mal den Mund auf. »Ein schöner Name für ein Schiff.«
Ihre Chefin trank ihren Kaffee aus. »Könnten Sie nach Neuwied kommen und dort eine Phantomzeichnung von diesem Schiffer anleiten?«
»Ich denke schon.«
Offenbar war Frau Fassbinder mit ihren Fragen durch und jetzt schlug endlich die Stunde von Sabrinas Mutter.
»Was ist mit Amelie passiert?«
»Sie wurde erschlagen. Es gab nach dem vorläufigen rechtsmedizinischen Bericht eine tätliche Auseinandersetzung, einen Streit vielleicht. Wir haben die Tatwaffe auch noch nicht gefunden. Todeszeitpunkt war ungefähr Mitternacht, plusminus dreißig Minuten.«
»Wurde … wurde sie …«
»Nein.« Die Kommissarin lächelte schwach. »Sie wurde nicht vergewaltigt. Ende der Woche haben wir unsere Untersuchungen abgeschlossen. Dann kann die Familie die Beerdigung vorbereiten.«
Franziska warf einen besorgten Blick auf ihre Tochter. Sie schien es zu bereuen, so offen gefragt zu haben. Während die beiden Beamtinnen sich verabschiedeten, versuchte Sabrina, die schrecklichen Worte zu verstehen. Erschlagen. Untersuchungen. Beerdigung. Doch sie schien wie unter einer großen Glocke zu sitzen, durch die nichts richtig durchdrang.
Auch in den nächsten Tagen gelang es ihr, die Gedanken zu verdrängen. Dann aber musste sie nach Neuwied, und dieser Termin fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte.
Das Bild von Kilian, das nach ihren Angaben im Computer entstand, weckte die Erinnerungen. Sie sah ihn wieder auf dem Marktplatz, wie er die Früchte ansah und schließlich diese eine Aprikose wählte. Sie hörte Amelies Stimme, wie sie »Ist der süß!« sagte. Sie spürte wieder ihr Herz klopfen, als sie unter dem Zaun durchkrochen. Und sie glaubte, noch einmal seine Stimme zu hören, als er ihren Namen wiederholte. Sabrina.
»Er ist kein Mörder.«
»Natürlich nicht.« Frau Fassbinder saß neben ihr und reichte ihr ein Taschentuch. »Aber ein wichtiger Zeuge. Wir müssen ihn finden.«
Sabrina nickte. Sie glaubte Frau Fassbinder nicht. Sie glaubte ja noch nicht einmal sich selbst.
Sie fanden Kilian nicht und sie fanden auch das Schiff nicht. Beide schienen wie vom Erdboden verschluckt. Nach ihrer zweiten Vernehmung fuhr Sabrina nicht zurück nach Leutesdorf, sondern ins Waldviertel nach Andernach. Sie konnte kaum glauben, dass sie vor kaum zehn Tagen mit ihrer besten Freundin kichernd die Straße hinuntergelaufen war. It’s night, you’re lost, where’s your room?
Willy Bogner schien sein Zuhause in der »Sonne« gefunden zu haben. Sie sah ihn im Vorübergehen am Tresen stehen, vor sich ein halb ausgetrunkenes Glas Bier. Sie drehte sich um und ging hinein. Die Wirtsstube war stockfinster, es roch nach verschüttetem Alkohol und kaltem Rauch. In der Ecke blinkten Glücksspielautomaten. Außer Bogner waren nur noch zwei ältere Männer da. Sie saßen in der Ecke, deprimiert vom Leben oder der Umgebung, in der sie dieses Leben verbrachten – wer konnte das schon sagen? Sie sahen hoch, als Sabrina neben Amelies Vater trat.
»Hallo.«
Bogner stierte mit blutunterlaufenen Augen in sein Glas. Der Schaum war angetrocknet. Vielleicht saß er schon seit Stunden so da.
»Wie geht es Wanda?«
Bogner nahm das Glas, überlegte einen Moment, als ob er eine wichtige Entscheidung fällen müsste, und trank es aus. »Wie soll’s schon gehen.«
»Ich wollte nur sagen, wie leid es mir tut. Mir fehlt Amelie so sehr.«
Bogner ließ sich nicht anmerken, ob diese Worte bei ihm angekommen waren. Er hob den Zeigefinger seiner rechten Hand. »Noch eins.«
Sabrina hatte den Wirt gar nicht bemerkt. Es war ein untersetzter Mann mit blassen, ausgezehrten Zügen, die dennoch aufgedunsen wirkten. Er nahm das dreckige Glas, hielt es unter den Zapfhahn und ließ Bier hineinlaufen. Dann stellte er es vor Bogner ab und machte einen Strich auf dessen Deckel.
»Wann ist die Beerdigung? Wissen Sie das schon?«
Bogner rutschte von seinem hohen Stuhl und wankte hinüber zu einer Musicbox. Leicht schwankend kramte er in seiner Hosentasche nach Kleingeld, warf es nach einigen vergeblichen, von leise gemurmelten Flüchen begleiteten Versuchen in den Schlitz und drückte eine Taste. »Macht Wanda«, rief er
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