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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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begrüßte sie
mit einem knappen Nicken. Er war bleich und hatte entzündete, rot geränderte Augen. Die Finger seiner gefalteten Hände zuckten. Er sah aus wie jemand, der zwei Wochen nicht geschlafen hatte. Plötzlich griff er nach Sabrinas Hand. Sabrina erschrak. Er drückte sie so fest, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. Seine Finger waren eiskalt.
    »Ich …« Er brach ab und schluchzte.
    Sabrina wusste nicht, was sie sagen sollte. Nie hätte sie geglaubt, dass Lukas Amelies Tod so nahegehen würde.
    »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß.«
    Lukas schüttelte den Kopf und weinte. Sie strich mit ihrer freien Hand über seinen Arm.
    Plötzlich merkte sie, wie still es war. Alle sahen sie an. Sie löste sich aus Lukas’ Griff, trat an das Grab und sah hinunter auf den Sarg, auf die Erdkrumen, den Sand und die drei Blumensträuße. Es war immer noch so unfassbar, dass Amelie dort unten lag, wo es keine Sonne, keine Wärme, kein Lachen und keine Farben gab. Aber das stimmte nicht.
    Sabrina hob den Kopf und sah in den Himmel. Es war alles ein Irrtum. Amelie war nicht tot. Sie war über einen Regenbogen gegangen, und einen Moment glaubte Sabrina sogar, sie würde irgendwo in den Bäumen sitzen, heruntersehen und gleich loskichern, weil wirklich ernste Angelegenheiten sie immer zum Lachen gebracht hatten.
    Sabrina holte tief Luft und begann zu sprechen:
     
    » Making love in the sun, the morning sun
in a hotel room
above the alley
where poor man poke for bottles;
making love in the sun
making love by a carpet redder than our blood
making love while the boys selling headlines
and cadillacs,
making love by a photograph of Paris
and an opened pack of chesterfields,

making love while other men – poor folks -
work.
That moment, to this …
may be years in the way they measure,
but it’s only one sentence back in my mind -
there are so many days
when living stops and pulls up and sits
and waits like a train on the rails.
I pass the hotel at 8
and at 5. There are cats in the alleys
and bottles and bumps,
and I look up the window and think
I no longer know where you are
and I walk on and wonder where
the living goes
when it stops.«

Herbst

    Hoch über der Donau erhoben sich die gewaltigen Mauern der Benediktinerabtei Stift Melk. Die Sieben-Schmerzen-Glocke rief zum Gottesdienst. Ihr Klang hallte weit hinab in das Tal der Wachau, über spitzgiebelige, schmale Häuser hinweg, über gewundene Uferwege und breite Strände, den Fluss hinauf fast bis nach Krems; ein mahnender Ruf, die Arbeit ruhen zu lassen und an den zu denken, der diese Welt geschaffen hatte.
    Er stand im Steuerhaus, nahm die Mütze ab und ließ das Flusstal an sich vorüberziehen. Solange die Glocken läuteten, hatte er seinen Gedanken Ruhe befohlen. Er versuchte ein Gebet, doch er bekam die Worte nicht mehr richtig zusammen, und nach dem dritten Anlauf gab er es auf. Ein Schwarm dunkler Vögel zerteilte sich über dem Kamm der Hügel. Ihre geheime Choreografie führte sie weiter oben hinter der Biegung mit elegantem Schwung wieder zusammen. Der Rhythmus der Glockenschläge verlangsamte sich, setzte aus, ein letzter Klang, noch einer, ein allerletzter, dann gehörte das Tal wieder der Welt.
    Er setzte die Mütze auf und startete den Motor. Es war Sonntag. In den Bäumen entlang des Ufers glühten die letzten Äpfel dunkelrot. Wanderer und Radfahrer grüßten manchmal herüber. Dann hob er den Arm und winkte zurück. Jedes Mal durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Erkannten sie ihn? Sein Schiff? Er musste sich fast mit Gewalt beherrschen, um nicht plötzlich ans Ufer zu steuern, von Bord zu springen und loszulaufen. Planlos, ziellos, nur den eigenen keuchenden Atem im Ohr, Hauptsache rennen, einfach nur weg. Doch er blieb am Steuer stehen, als wäre er dort mit unsichtbaren Ketten festgeschmiedet. Er war eins mit seinem Schiff, egal, wohin sein Weg ihn führen würde.
    Hinter Krems, wo die Donau wieder wilder wurde, gab es genug Gelegenheiten, sich zurückzuziehen. Wenn es Abend wurde, hatte
er in verträumten Kanälen und an stillen Schleusen einfach den Motor abgestellt und den Anker ausgeworfen. Niemand hatte gefragt. Doch je weiter er Richtung Wien gekommen war, desto schwieriger wurde es, unauffällig zu bleiben.
    Er warf einen Blick zurück auf die Benediktinerabtei, die auf der Spitze des Felsens thronte wie ein barockes Raumschiff. Als ob die Erbauer dem Himmel so nah wie möglich kommen wollten, ging es ihm durch den

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